Geschichten aus Zürich

Multimediales Storytelling

Die Welt der Menschen, um die es in diesen Beiträgen geht, ist fast 700 Jahre alt. Ich konzipierte und realisierte das MA-Seminar Brunngasse 8 und Film im Frühlingssemester 2018 am Deutschen Seminar der Universität Zürich, als Professorin für ältere deutsche Literatur sowie Regisseurin und Produzentin des Dokumentarfilms Brunngasse 8. Unsere Sparringpartner waren Gäste aus Wissenschaft, Filmproduktion und Medien.

Brunngasse 8

In verschiedenen Häusern in der Zürcher Altstadt sind mittelalterliche Wandmalereien überliefert. Die Brunngasse 8 zählt zu den spannendsten Fundorten, weil die Wandmalereien im Treppenhaus und in einer der Wohnungen neue Erkenntnisse über die Koexistenz von Juden und Christen im spätmittelalterlichen Zürich bringen.

Hier sind unsere Geschichten. Viel Freude!

Prof. Dr. Hildegard Keller

Jacqueline Frei und die Wappen

Die Story führt in die mittelalterliche Wappenkunde ein. Der Ausgangspunkt ist der Wappenfries auf den Wandmalereien in der Brunngasse 8 in Zürich. Was – und vor allem: wen – stellen die Wappen dar? Welche Bedeutung hat der Wappenfries für die Auftraggeber und ihre Gäste?

Wie kam Jacqueline zur Heraldik? Der weisse Elefant auf rotem Grund hat es ihr angetan. Sie will wissen, welche adlige Familie hinter dem Wappen steckt und wie sie auf den Elefanten kam. Ist das Wappentier wirklich so exklusiv im mittelalterlichen Zürich?

Jacqueline tanzt durchs Leben und liest sich durch „die Welten, die zwischen Buchdeckeln in meinem Zimmer türmen“, mit offenen Ohren für Sirenen.

Jacqueline mag „I will keep following the sirens“ von Oh Land und macht ihren Master in Germanistik und Biologie an der Universität Zürich.

Marco Anzidei und das Geld

Marcos Story dreht sich ums Geld und vermittelt eine Ahnung, in welchem Ausmass die Juden als Bankiers gebraucht und leider auch missbraucht wurden. Durch Geldverleih und Geldwechsel waren die Juden für Zürich und die Zürcher Bürger im Spätmittelalter wirtschaftlich essentiell.

Marco stiess in Texten und Quellen auf Angaben über Beträge, die Juden verliehen, als Schutzgeld abgegeben oder anderweitig in den Wirtschaftskreislauf eingebracht haben – nur: Welche Kaufkraft verbirgt sich hinter solchen historischen Zahlen? Marco machte sich auf die Suche nach Antworten. Das Recherchieren im Staatsarchiv ist Marcos Geheimtipp: „Wer noch nie im Staatsarchiv war, sollte das unbedingt nachholen. Es ist eine ganz eigene Erfahrung, originale Urkunden aus dem 14. Jahrhundert vor sich zu haben.“

Marco Anzidei studiert Deutsche Literatur und Populäre Kulturen. Beruflich fühlt er sich fest im Sattel: „Meine Berufung habe ich als Lehrer bereits gefunden.“

Virginia Wyss und Esther

In ihrer Story «Esther» nimmt Virginia die Fantasie nicht an die kurze Leine, sondern erkundet mit der gleichnamigen Frau aus dem Mittelalter das heutige Zürich. Die Idee für die Story kam ihr im Zug, als sie sich fragte: Wie erginge es den Menschen auf den Wandmalereien an der Brunngasse 8 heute in Zürich?

Vielleicht liegt die Frage näher für eine gebürtige Berner Oberländerin, die mit Blick auf die Mythen wohnt, als Kind Wiesen, Wald und Bach liebte und heute die Natur, aber auch Eltern und Bruder partout nicht missen möchte: „Ich bin ein Familienmensch, schön, dass auch sie in Schwyz und Umgebung wohnen und arbeiten.“

Virginia Wyss schliesst im Dezember ihr Master-Studium in Deutsch und Geschichte ab und macht danach berufsbegleitend das Lehrdiplom. Sie unterrichtet bereits an der Kantonsschule Schwyz. Das Fotoshooting war amüsant. Ein Tourist aus Asien wollte unbedingt Virginias Model Sophie fotografieren, denn er meinte so viel „Swiss culture“ sei ihm noch nicht über den Weg gelaufen.

Mirjam Fehr und Frau Minne

Die Story von Mirjam ist der geheimnisvollen „starken Frau“ gewidmet, die in der jüdischen Tradition gar nicht so selten ist. Die angehende Germanistin und Anglistin erforscht Frau Minne, die im frühen 14. Jahrhundert an der Brunngasse 8 wohnte. Ihre Familie, die Menachems, haben um 1330 die berühmten Wandmalereien in Auftrag gegeben.

Die Adliswilerin Mirjam hat an der Kantonsschule Freudenberg die Matura gemacht. Sie nutzte das Seminar dazu, neue Winkel und Ecken Zürichs, Geschichten und Menschen kennenzulernen. Wie kam Mirjam auf die Idee zu ihrer Story? „Frau Minne wird in der Forschung als starke Frau mit Einfluss beschrieben. Das hat mir imponiert, ich wollte ihr auf die Spur kommen.“

Mutig machte sie sich auf die Suche nach Experten für jüdische Geschichte und wurde fündig. „Die Interviews mit Herrn Ralph Weingarten sowie mit Herrn Rabbiner Elijahu Tarantul haben mir bleibenden Eindruck gemacht. Sie sind Wissensquellen! Der Austausch mit ihnen hat meinen Horizont enorm erweitert.“

Elena Wetli und die Denkmalpflege

Elenas Story lebt von der Erfahrung der Autorin in der Denkmalpflege. Die zündende Idee kam ihr, als sie sah, dass die Brunngasse 8 ein geschütztes Objekt ist: Mit welchen Vorurteilen sind Denkmalpfleger konfrontiert? Die Autorin berichtet von Fällen aus Geschichte und Gegenwart und zeigt auf, dass die Haltungen der Menschen zur überlieferten Bausubstanz ebenso historisch geprägt sind wie die Steine selbst.

Elenas Forschungsreise war packend. „Besonders geholfen hat mir das Treffen mit Herrn Baur.“ Er sprach im Interview von einem Projekt, das eine grosse Schneise in das Niederdorf gerissen hätte. Elena stockte der Atem: „Davon hatte ich noch nie zuvor gehört, unvorstellbar, dass so ein Projekt beinahe umgesetzt worden wäre!“ Sie wollte mehr wissen über den sogenannten Zähringerdurchbruch, das drastischste Stadtentwicklungsprojekt Zürichs.

Elena Wetli studiert an der Universität Zürich Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft im Master. Nach dem Bachelor an der Universität Bern gönnte sie sich ein Zwischenjahr, in dem sie auch ein halbes Jahr als Praktikantin bei der Denkmalpflege arbeitete. „Dort sammelte ich wertvolle Erfahrungen, bevor es mich in die Ferne zog“, erzählt sie. Sie ging nach Japan und lernte die japanische Sprache: „Diese Zeit hat mich sehr geprägt.“

Und wie geht es nach dem Studium weiter? „Das Leben bleibt unberechenbar. Ich sehe ihm mit offenen Augen entgegen, will richtig gut Japanisch lernen und keine Gelegenheit verpassen, Essen, Sprache, Reisen und Bücher zu verbinden.“

Nicole Schmid und der Falke

Nicole verfolgt in ihrer Story den Falken von Ost nach West und quer durch die Jahrhunderte. Wie kam sie auf diese Idee? Zweimal flatterten Falken innert kurzer Zeit über Nicoles Weg, beim ersten Mal in einer Videoinstallation (dort war der Falke das Haustier von Scheichen) und beim zweiten Mal auf der spätmittelalterlichen Wandmalerei an der Brunngasse 8, die sie mit unserem Seminar besichtigte). Schlagartig war Nicoles Forschungsfrage klar: Wie verändert sich die Praxis der Falkenjagd aus kulturgeschichtlicher Perspektive?

Nicole ist vierundzwanzig und studiert im Master Englische sowie Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Ihre Passion gilt der Literatur und dem Film, und das Locarno Film Festival ist ein Must für sie.

Nicole weiss noch nicht, wohin sie die Zukunft führen wird. „Ich bin offen“, sagt sie, „entweder für eine Herausforderung im kulturellen Bereich oder in der Lehre.“ Auf jeden Fall bricht sie im Herbst 2018 nach Chicago auf, wo sie als Praktikantin im kulturellen Bereich arbeiten wird.

Marina Benic und die Minne

Marinas Story dreht sich um Minne und Minnesang, um schriftliche und mündliche Liebesbekennntnisse im späten Mittelalter, aber im Laufe der Recherchen begann sie sich auch zu fragen: Wie war das eigentlich für die Generationen meiner Grossmutter und meiner Mutter? So kam ihre Story zum grossen Bogen zwischen dem mittelalterlichen Zürich und dem Jugoslawien des 20. und 21. Jahrhunderts.

Marina studiert Germanistik und Slavistik im Master an der Universität Zürich und macht das Lehrdiplom für Maturitätsschulen: „Das macht mir unglaublich viel Spass. Ich mag es, mit jungen und motivierten Menschen arbeiten zu können.“ Sie sieht sich nach dem Studium als Lehrerin an einer Kantonsschule zu finden. Neben dem Studium arbeitet sie; sie unterstützt KV-Lernende und bereitet sie auf die Lehrabschlussprüfungen vor.

Maya Olah und das Tanzfest

Mayas Story geht auf das Tanzmotiv in den Wandmalereien an der Brunngasse 8 ein, wirft einen Blick in die aktuelle Zürcher Rave-Kultur gibt Tricks für schüchterne Technoclub-Besucher.

Maya Olah ist in St. Gallen aufgewachsen und studiert im Master Germanistik und Ethnologie in Zürich. Sie schreibt Kurzgeschichten, gewann den Schreibwettbewerb der Solothurner Literaturtage 2016 und produziert jetzt ein Hörspiel.

Maya wurde neugierig auf das Tanzmotiv, weil sie überrascht war von der Ausgelassenheit der dargestellten Figuren: "In einem Artikel steht, dass es sich bei den Tanzenden um Bauern und höfische Damen handeln. Dies hat mich sehr überrascht, da mir bis dahin noch nie begegnet ist, dass diese zwei sozialen Schichten miteinander zu tun hatten."

Maya interessiert sich für vieles, und kann sich ihre Zukunft in der Lehre oder auch im Radio oder Kulturbereich vorstellen.

Janine Heini und der Judenhut

Janines Story dreht sich um den mittelalterlichen Judenhut, der auch auf dem Siegel der Söhne von Frau Minne abgebildet ist. Haben die männlichen Bewohner der Brunngasse 8 tatsächlich solche spitz zulaufenden Hüte getragen? Janines Story zeigt auch, wie Juden in dem in Zürich entstandenen Codex Manesse dargestellt wurden. Die Autorin verbindet ihre Überlegungen zur spätmittelalterlichen Ikonografie der Juden mit Beobachtungen aus dem modernen Zürich.

Die Luzernerin studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich und sieht an ihrem beruflichen Horizont ein Engagement im Journalismus, in der Medienbranche und vielleicht auch im Film.

Janine Heini interessiert sich für Mode, arbeitet als Model und lebte eine Zeitlang in Wiedikon, wo ihr die auffällig einheitlich gekleideten orthodoxen Juden ins Auge fielen. Das brachte die Autorin auf die Idee, nach dem historischen Look von Juden in Zürich zu fragen. Besonders aufregend fand Janine die Begegnung mit dem achthundertjährigen Codex Manesse in faksimilierter und digitaler Form, denn das Original liegt in Heidelberg.

Manuel Diener und der Bürgermeister

Der Zürcher Bürgermeister Rudolf Brun tolerierte den Juden-Pogrom von 1349 und profitierte sogar mehrfach davon – wie genau, ist in Manuel Dieners Story nachzulesen. Als Manuel recherchierte, erlebte er berührende Momente: „Als ich in der Synagogengasse fotografierte, sang ein Mann hinter offenem Fenster. Es war eine wunderbare Stimmung: die Stille der Synagogengasse, ein Streifen Morgensonne an der Wand, die klassische Musik.“ Ein anderes Mal teste er elementare Kommunikationsregeln: „Ich ging an der Brunngasse 8 vorbei und rief «Hey altes Haus!», worauf der alte Mann, der im selben Moment an mir vorüberging, ziemlich irritiert schaute.“ Und einer Verkäuferin bescherte er tatsächlich Bombenstimmung, als er seine Fototasche bei ihr deponierte.

Manuel war früh entwickelt als Storyteller. Mit vier legte er seinen Erstling «Das kleine Krokodil» hin (mit dem Grossvater) und ist auch heute noch erfolgreich im Duo (mit Valerio Moser). Das Slam-Duo «InterroBang» kam national und international in Medaillenränge, das erste abendfüllende Programm war «Schweiz ist geil», im September feiert das zweite Programms Premiere.

Manuel studiert Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich. Er kam ins Seminar Brunngasse 8 und Film und fand prompt sein Thema: „Ich las die Geschichte der Zürcher Juden und stiess auf den Namen Rudolf Brun. Da schoss es mir durch den Kopf: «Ist das nicht DIESER Rudolf Brun?» Als es tatsächlich DIESER Rudolf Brun war, dachte ich: «Das ist meine Geschichte!»“

Tamara Bojahr und der Wuchergeist

Die Story «Wuchergeist – die Kraft der Vorurteile» geht der Frage nach: Wie kam es zu den Vorurteilen gegenüber Juden, die sie mit Geld in Verbindung bringen? Die Inspiration dazu fand Tamara in einem Gespräch unter Zugpassagieren: „So hat sich mir mein Thema quasi subtil offenbart.“

Die Zugerin ist vierundzwanzig, studiert Germanistik und Religionswissenschaft an der Universität Zürich, sieht sich als zukünftige Deutsch- und Religionslehrerin am Gymnasium und erwägt ein Zusatzstudium in Logopädie.

Für ihre Story griff Tamara zu Kohlestiften und machte auch eine Umfrage bei Zuger Jugendlichen aus dem Verein Ten Sing Baar, in dem Tamara mitarbeitet: „Meine Story hat es geschafft, Themen anzusprechen, die ich und die anderen bisher nie angerührt hatten.“

Johanna Schick und Rabbi Moses

Johannas Story dreht sich um die Geschichte von Rabbi Moses. Er war Sohn einer wohlhabenden Familie und gelehrter Verfasser des Zürcher Semaks. Wie kam die Autorin auf die Idee? Als Johanna zum Seminar über Zürcher Juden im Mittelalter recherchierte, stiess sie auf den Rabbi, seine Name wurde häufig erwähnt und seine Geschichte machte Johanna neugierig.

Johanna Schick ist vierundzwanzig und lebt in Zürich. Seit vier Jahren studiert sie Allgemeine Linguistik und Germanistik und begeistert sich dafür, wie eng Sprache und Kultur miteinander verwoben sind und wie Sprache unsere Wahrnehmung und unser Denken prägt: „Hin und hergerissen zwischen Literatur und Linguistik habe ich in dieser Zeit ein grosses Interesse für die Sprachen der Welt entwickelt.“ Sie lernt seit einem Jahr Arabisch.

Und nach dem Studium? Johannas Strategie für die Zukunft: „Ich lasse sie auf mich zukommen.“

Helena Hasler und die Farben

Fasziniert von der Frage, wie Wandmalereien aus dem Mittelalter verblassen, begann Helena über die Machart der einst bunten Gemälde an der Brunngasse 8 zu forschen. Ihre Story führt ein in Pigmente, Techniken und Aspekte der Restaurierung.

Die Begegnung mit der Expertin Barbara Könz war eine grosse Bereicherung. Nach dem Interview zeigte sie der Autorin Steine und Pigmente – für Helena eine ideale Einführung in den Bereich der Restaurierung.

Die Zürcherin lebt mit ihrer Familie in Oerlikon (die Buben sind zweieinhalb bzw. fast ein Jahre alt). Nach dem Studium der Germanistik, Allgemeinen Sprachwissenschaft und Gender Studies strebt sie das Lehrdiplom und eine Stelle als Deutschlehrerin an einem Gymnasium an: „Und ich möchte weiterhin meine Familie geniessen.“

Danke

Danke an Linus, der zum Glück nach Neuseeland auswandern wollte und mich mit Shorthand bekanntmachte.

Thanks to Simon, Dawn, Daniel, Andrew and, of course, Ricky who made possible our Shorthand adventures.

Thanks to Andy for his song.

Danke an Jörn für Feedback und an Christof für den Blick von aussen.

Danke an die tollen, unverzagten Studierenden des Seminars.

Danke an unsere Seminargäste, die meine Einladung als Sparringpartner akzeptiert haben: Rainer HenrichDr. Ingrid Kaufmann, Rolf Lang (Redspace) und Constantin Seibt (Republik).

Danke an Silvana Lattmann für die Gastfreundschaft an der Brunngasse 8 und an Dölf Wild, Leiter der Stadtarchäologie Zürich, für den Empfang im Amtshaus IV. 

Für die ideelle, organisatorische und finanzielle Unterstützung danke ich Prof. Dr. Tatiana Crivelli, dem Deutschen Seminar der Universität Zürich, ganz besonders Markus Domeisen, sowie der Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der Universität Zürich.