Letztes Jahr lebte ich für ein paar Monate im Quartier Wiedikon in Zürich. Meine Wohnung lag mitten im Kreis 3 in der Nähe der erzkonservativen Synagoge Agudas Achim. Wenn ich es morgens jeweils in die 7-Uhr-Yogastunde schaffte und an der Erikastrasse 8 um die Ecke bog, begegnete ich ihnen. Sie waren auch kaum zu übersehen. Schwarz gekleidet, den Blick grusslos zu Boden gesenkt, Richtung Synagoge eilend. Die Männer mit schwarzen Kaftanen, Pelzhüten und Schläfenlocken. Die Frauen mit formloser, hochgeschlossener Kleidung, Kopfbedeckungen oder Perücken.

Die ultraorthodoxe jüdische Gemeinde in Zürich gehört zu den konservativsten weltweit. Fast die Hälfte der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz wohnt in diesem Viertel in Zürich. Prozentual zur Stadtbevölkerung gesehen sind es nicht viele Menschen. Durch ihre auffällige Kleidung wirken sie in diesem Stadtteil jedoch sehr präsent.

Eines Tages kam ich an dem koscheren Laden vorbei, den ich bisher noch keines Blickes gewürdigt habe. Vor dem Laden stand eine orthodoxe Jüdin in traditioneller Tracht. Irgendwie wirkte sie neben den vorbeilaufenden Menschen in leichter Kleidung wie Shorts und kurzen Röcken ein bisschen fehl am Platz. Es war Sommer. Ein heisser Sommer.

Ich würde gerne mehr über ihre Kleidung erfahren. Sollte ich sie ansprechen? Ich persönlich mag es nicht, von wildfremden Menschen angesprochen zu werden. So überraschter war ich, wie offen sie mir Antwort gab. Ich nenne sie hier mal Judith, was auf hebräisch so viel wie Frau von Judäa oder einfach Jüdin bedeutet. Judith erzählte, dass sie auf ihre Schwester warte, mit der sie gemeinsam einkaufen gehen wollte. Judith ist verheiratet, deshalb verbirgt sie ihr Haar ausserhalb des Hauses unter einer Kopfbedeckung. „Das weibliche Haar ist für Juden etwas Spezielles und vor allem Intimes“, erklärte sie mir. Dies bedeutet, dass es nur ihr Mann sehen darf. Ob das für sie nicht eigenartig sei, fragte ich sie. Judith verneinte. Sie sei so aufgewachsen, sie kenne es nicht anders und sie tue es deshalb auch gerne.

Der Chefredaktor des jüdischen Wochenblattes Tachles, Yves Kugelmann, meint dazu: „Orthodoxe Jüdinnen versichern einem immer, dass sie sich kein besseres Leben vorstellen können. In solchen Gemeinschaften ist alles gottgegeben. Es zu hinterfragen, wäre zu schmerzhaft.“

Ich bin keine Jüdin. Für mich ist es deshalb schwierig, mir vorzustellen, nach streng religiösen Regeln zu leben. Bestimmte Essgewohnheiten einzuhalten und dafür in speziellen Läden einkaufen zu müssen. An festgesetzten Tageszeiten zu beten. Und einen festgelegten Dress-Code zu haben.

Ich würde jedenfalls morgens jede Menge Zeit sparen, da ich mich nicht vor meinem überfüllten Kleiderschrank für ein neues Outfit entscheiden müsste. Diese Zeit investiere ich jedoch gerne, wenn ich dafür die Freiheit besitze, selbst über meine Kleidung bestimmen zu können.

Wie ist es eigentlich überhaupt zu diesem jüdischen Einheits-Look gekommen? Waren sie schon immer so gekleidet? Wie kleidete sich die jüdische Religionsgemeinschaft zum Beispiel im Mittelalter?

Ich beschliesse der Sache auf den Grund zu gehen. Werfen wir mal einen Blick in die Vergangenheit.

Zuerst muss ich mich jedoch fragen: Woran kann ein bestimmter Dress-Code überhaupt erkannt werden? Wir reden ja nicht nur von Farben wie Schwarz. Sondern auch von Mustern und Stoffen. Von Hüten als Kopfbedeckungen, hochgeschlossenen Blusen, langen Ärmeln und Röcken, langen Hosen und spitzen Schuhen.

Solche Kleiderdetails in Bildbänden zu erkennen ist jedoch nicht leicht. Bis ins frühe Mittelalter war das individualisierte Porträt nicht üblich. So lässt sich auch die jüdische Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt in Bildern noch nicht erkennen. Charakteristische Darstellungen finden sich erst später.

"In Kleidung, Körper und Gesichtszügen findet man jedenfalls keinen Unterschied zwischen dem Juden und dem Christen."
Bernhard Blumenkranz, Historiker

Es geschahen nun zwei Dinge. Erstens machten die Künstler Fortschritte in der Darstellung von individualisierten Gruppenmerkmalen. Und zweitens änderten sich die Lebensbedingungen der jüdischen Gemeinschaft. Beim ersten Kreuzzug im 11. Jahrhundert war die jüdische Bevölkerungsgruppe von den Christen ausgeschlossen und es kam zu ersten Judenverfolgungen. Dieser soziale Ausschluss führte zu ersten bildlichen Kennzeichnungen dieser Gruppe.

Von nun an wird die jüdische Gemeinschaft in Darstellungen als solche kenntlich gemacht. Es handelt sich dabei jedoch nicht um die uns heute vertraute schwarze Kleidung. Der jüdische Mann ist in erster Linie an seiner Kopfbedeckung, seinem Bart und den Schläfenlocken erkennbar. Der Judenhut war wohl das am häufigsten verwendete Objekt zur Darstellung der Juden in der spätmittelalterlichen Kunst. Er wurde lateinisch pileus cornutus (gehörnter Hut) genannt und war ein nach oben spitz zulaufender Hut (vgl. Brunschwig, 37).

Auf farbigen Abbildungen ist er gelb, goldgelb oder honigfarben. Also nicht schwarz wie die Judenhüte heute.

Schwarz scheint also heute das neue Gelb zu sein, das heisst: Das von orthodoxen Juden selbst gewählte Schwarz hat Gelb als Farbe historischer Kennzeichnung und Diffarmierung abgelöst.

Diese Miniatur des Wessobrunner Kodex von 814/15 zeigt die Taufe von Juden nach der Entdeckung des heiligen Kreuzes in Jerusalem. Der jüdische Täufling unterscheidet sich nicht von den anderen. (Abb. in Blumenkranz, 14)

Diese Miniatur des Wessobrunner Kodex von 814/15 zeigt die Taufe von Juden nach der Entdeckung des heiligen Kreuzes in Jerusalem. Der jüdische Täufling unterscheidet sich nicht von den anderen. (Abb. in Blumenkranz, 14)

Diese Miniatur des sogenannten Evangeliars Ottos III. um 1000 zeigt die Vertreibung der Tempelhändler durch Jesu. Auch hier ist keine Unterscheidung zwischen Juden und Christen zu erkennen. (Abb. in Blumenkranz, 16)

Diese Miniatur des sogenannten Evangeliars Ottos III. um 1000 zeigt die Vertreibung der Tempelhändler durch Jesu. Auch hier ist keine Unterscheidung zwischen Juden und Christen zu erkennen. (Abb. in Blumenkranz, 16)

In einer französischen Sammlung von Marienlegenden aus dem 14. Jahrhundert bei einer Darstellung der Legende des Judenknaben, der verbrannt wird, weil er einer christlichen Messe teilgenommen hatte, ist der Vater als Jude an seinem Käppchen, den Schläfenlocken und dem Bart erkennbar. (Abb. in Blumenkranz, 19)

In einer französischen Sammlung von Marienlegenden aus dem 14. Jahrhundert bei einer Darstellung der Legende des Judenknaben, der verbrannt wird, weil er einer christlichen Messe teilgenommen hatte, ist der Vater als Jude an seinem Käppchen, den Schläfenlocken und dem Bart erkennbar. (Abb. in Blumenkranz, 19)

Hier dargestellt sind Juden mit den typischen Spitzhüten. (Abb. in Blumenkranz, 35)

Hier dargestellt sind Juden mit den typischen Spitzhüten. (Abb. in Blumenkranz, 35)

Diese Miniatur aus dem Raum Konstanz stellt jüdische Menschen dar, wie sie Jesu mit dem Kreuz beladen zur Richtstätte führen. (Abb. in Blumenkranz, 50)

Diese Miniatur aus dem Raum Konstanz stellt jüdische Menschen dar, wie sie Jesu mit dem Kreuz beladen zur Richtstätte führen. (Abb. in Blumenkranz, 50)

In diesem Fragment eines spätmittelalterlichen Freskos aus der Katharinenkapelle in Landau/Pfalz wird der Jude an seinem Spitzhut, Bart und Schläfenlocken identifiziert. (Abb. in Blumenkranz, 51)

In diesem Fragment eines spätmittelalterlichen Freskos aus der Katharinenkapelle in Landau/Pfalz wird der Jude an seinem Spitzhut, Bart und Schläfenlocken identifiziert. (Abb. in Blumenkranz, 51)

Darstellung eines bewaffneten Juden mit gelbem Spitzhut in einer Sachsenspiegel-Handschrift. (Abb. in Brugger, 135)

Darstellung eines bewaffneten Juden mit gelbem Spitzhut in einer Sachsenspiegel-Handschrift. (Abb. in Brugger, 135)

Die Menschen im Mittelalter bewerteten die Farben unterschiedlich. Vor allem die safrangelb gefärbten Gewänder, die besonders bei den Damen beliebt waren, wurden zur Zielscheibe des Spotts:

Pfui, ihr Färberinnen und Gelmacherinnen, wie gerne möchtet ihr in das Himmelreich eingehen! Im Himmel aber seid ihr Fremde, denn ihr habt Gott verleugnet, und deshalb verleugnet er auch euch.
Berthold von Regensburg, 228.

Es werde Geld und Arbeit verschwendet, um die leuchtende Farbe herzustellen. Zudem soll die gelbe Farbe sexuelles Begehren erregen (vgl. Keupp, 120). Der Franziskanermönch Berthold von Regensburg schlug deshalb vor, die gelben Tücher als sichtbare Zeichen bestimmter Randgruppen der Gesellschaft vorzubehalten:

Derartiges sollten allein die Jüdinnen tragen und die Pfaffendirnen und die bösen Häute, die auf dem Graben gehen: Sie sollen gelbes Gebände tragen, damit man sie erkennen kann.
Berthold von Regensburg, Bd 1, S. 415.

Sein Wunsch ging mit dem gelben Judenhut und später dem gelben Judenstern in Erfüllung.

Die Farben hatten im Mittelalter somit klare Bedeutungen (vgl. Keupp, 124). So zeigt zum Beispiel das Minnelied Mich fragte eine gar liebreizende Dame eine Art Farbratgeber:

Merkt es euch gut, es fängt folgendermassen an: Grün ist der Anbeginn der Liebe; Gelb ist das Verlangen nach Liebe; Blau bedeutet Treue, dem wird viel Zuneigung teil. Weiss bedeutet das liebende Angedenken und wird so manchen Neider ärgern. Braun lehrt beständige Wachsamkeit und kommt so manchem zugute; Schwarz ist eine schreckliche Kleiderfarbe, weh dem, der sich so anzieht. Rot brennt in redlicher Liebe, wohl dem, der bei Verstand bleibt. Grau bedeutet reiche Liebe, dazu Edelmut und Frohsinn. Gestreift ist ein Aufzug für Affen, dem soll an dieser Stelle entsagt werden.
Liederbuch der Clara Hätzlerin, 168

Es wurden also nicht nur die Farben bewertet, sondern auch die Muster. Doch dazu später mehr. Zuerst zurück zum gelben Judenhut.

Juden in der Kunst Europas

Juden in der Kunst Europas

Im Mittelalter entsteht eine neue kulturgeschichtliche Situation. In der Antike war die Kleidung gewöhnlich kein Merkmal zur Unterscheidung von Gruppen:

The diaspora Jews of antiquity were not easily recognizable, if, indeed they were recognizable at all. Jews looked like everyone else, dressed like everyone else, spoke like everyone else, had names and occupations like those of everyone else, and, in general, closely resembled their gentile neighbours.
Cohen, 39

Es ist in der Forschung umstritten, ob und ab wann der Judenhut freiwillig getragen wurde oder ob er ein aufgezwungenes Kleidungsstück gewesen war. Die Judaistik-Expertin Ingrid Kaufmann parallelisiert das Tragen des Judenhutes mit Kleiderkonventionen, denen auch die christliche Mehrheit unterworfen war. Der Historiker Straus deutet dabei das freiwillige Tragen des Hutes als eine selbstbewusste Antwort der Juden auf die ihnen auferlegte Kennzeichnung:

„This new restriction reawakened the Jews defensive reaction against the adoption of the costume worn by their neighbours which was an inevitable product of historical development. Because of their heritage the Jews were in a position to revive oriental habits of dress which had fallen into disuse centuries before. Once again the question concerned the headpiece but this time not the shape itself but the matter of covering the head. In the Talmud it is recommended as a religiously laudable habit, especially for scholars, to keep the head constantly covered during prayer as well as at other times." (Straus, 67)

In einigen Fällen nahm die jüdische Gemeinschaft im Laufe der Zeit freiwillig eine unterscheidende Kleidung an, um sich von der vorherrschenden Kultur zu trennen. In anderen Fällen waren sie gesetzlich verpflichtet, sich in besonderer Weise anzuziehen. So wird der Judenhut zum Beispiel im Schwabenspiegel vorgeschrieben:

Die iuden suln hüte tragen, die spiz sin, da mit sint si uz gezeichent von den cristen, daz man si für iuden haben sol. 
Schwabenspiegel 214/10

Der Schwabenspiegel ist ein, um 1275 entstandenes, deutsches Rechtsbuch eines unbekannten Franziskaners. Laut der Historikerin Christine Magin ist diese Vorschrift nur in Sammlungen von römisch-katholischem Recht anzutreffen:

Wie es umb der Iuden recht stet.
Margin, 163

Die rechtlichen Beschreibungen im Schwabenspiegel zeigen die Wechselwirkungen zwischen weltlichen und kirchlichen Vorgaben. Auch die Kirche hat die spezielle Kleidung vorgeschrieben. Dies war zunächst als vorbeugende Massnahme gedacht, um die Religionsgemeinschaften nicht miteinander zu vermischen:

"Trachten und Gewänder hatten die Funktion, die soziale Zugehörigkeit zu einem Stand oder einer Gruppe zu markieren und die Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsteile zu verhindern. Dadurch sollte nicht zuletzt vermieden werden, dass es zwischen ihnen zu intimen Beziehungen kam."
Kaufmann, 160

Die Juden wurden für die weltlichen Fürsten zunehmend wichtiger, da sie als Geldverleiher die Wirtschaft ankurbelten. Diese Entwicklung versuchte die Kirche zu verhindern.

Das Laterankonzil unter Papst Innozenz III. von 1215 beschloss die jüdische Religionsgemeinschaft von der christlichen zu trennen, indem es ein jüdisches Kennzeichen in der Kleidung vorschrieb.

Diese Kleiderordnung ist die erste uns bekannte allgemeine Anordnung in der christlichen Welt, welche die Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften zwingt, sich in diskriminierender Art zu kennzeichnen.

„Wir bestimmen streng, dass die Juden, die sich in der Kleidung von den Christen unterscheiden müssen, den gehörnten Hut (cornutum pileum), den sie in diesen Gebieten zu tragen gewohnt waren und den abzulegen sie sich in ihrer Vermessenheit (temeritate) herausgenommen haben, wieder einführen, damit sie von den Christen eindeutig unterschieden werden können.“

(dt. Übersetzung in Brugger/Wiedl, 59)

Wie kein zweites Kleidungsstück veranschaulicht der mittelalterliche Judenhut so die wechselnde Wahrnehmung als Eigenes oder Fremdes, Freiwilliges oder Aufgezwungenes. Das Tragen des Huts steht dabei zwischen Diskriminierung und Selbstrepräsentation.

Die jüdische Sondertracht wurde anfangs jedoch gar noch nicht als Zwangstracht und als Schandzeichen wahrgenommen. Sie war vielmehr Bestandteil jüdischer Selbstdarstellung.

So war der Judenhut oft auch auf Siegeln und Wappen abgebildet. Wie zum Beispiel hier bei einer jüdischen Familie in Zürich im 14. Jahrhundert. Auf dem Siegel der Brüder Moshe und Mordechai ben Menachen und Vifli findet sich ein Emblem, auf dem drei gegeneinander gekehrte Judenhüte zu sehen sind.

Siegel des Vifli b. Mose. StA. Zürich, C I nr. 280, 21. Juni 1352.

Siegel des Vifli b. Mose. StA. Zürich, C I nr. 280, 21. Juni 1352.

Quittung der Juden Moses, Gumprecht und Susman an die Stadt Zürich. StA. Zürich, C I nr. 277, 31. Jan. 1329.

Quittung der Juden Moses, Gumprecht und Susman an die Stadt Zürich. StA. Zürich, C I nr. 277, 31. Jan. 1329.

Der Text der Urkunde lautet:

„Allen, die diesen Brief sehen oder hören lesen, künden wir, Moses und Gumprecht, die Juden, Brüder, Söhne der Jüdin, Frau Minne, von Zürich, und dieselbe Frau Minne, ihre Mutter, mit ihnen, und Susman, der Jude von Zürich, und bezeugen öffentlich, dass wir den Rat und die Bürger von Zürich gemeinsam, gänzlich ledig gelassen haben, und sagen sie ledig mit diesem Briefe, mit Vorbedacht und mit Willen, für uns und unsere Erben, die wir hierzu verpflichten, aller der Versprechungen und Gelübde, die sie uns getan und gelobt hatten um die neunundeinhalb Hundert Mark Silbers, die uns der edle Herr Graf Johans von Habsburg zahlen sollte. Von diesem Silber gehörten uns, dem Moses und Gumprecht, achtundeinhalb Hundert Mark, und mir, dem vorgenannten Susman, hundert Mark, worüber wir auch Briefe hatten von dem vorgenannten Grafen Johans, die besiegelt waren mit seinem Siegel und mit dem Siegel der Bürger Zürichs. Und darüber, dass dies wahr sei und stets bleibe, haben wir, die vorgenannten drei Juden, diesen Brief mit unsern Siegel öffentlich gesiegelt. Und ich, die vorgenannte Frau Minne, binde mich mit meiner Söhne Siegel, da ich kein eigenes Siegel habe. Dies geschah in Zürich an dem Dienstage vor der Lichtmesse, da seit Christi Geburt waren dreizehnhundert Jahr, und darnach in dem neunundzwanzigsten Jahre.“
Guggenheim-Grünberg, 24

Die selbstbewusste Abbildung des Spitzhuts im Siegel der Judenfamilie drückt einen fast schon ständischen Stolz aus. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass der Judenhut als abwertendes Symbol empfunden wurde. Wie lässt sich das erklären? Schauen wir uns diese jüdische Familie mal genauer an.

Zürich, 1330. Von der römischen Ortschaft Turicum hat sich Zürich zu einer der grössten Schweizer Städte des Mittelalters entwickelt. Fast 5000 Einwohner lebten hier in Häusern mit engen Gassen hinter einer Stadtmauer, die von mehreren Kirchtürmen und Toren überragt wurde. Der Ort war einer der bedeutendsten Marktorte im oberdeutschen Raum mit Handelsverbindungen nach Norden und Süden. Die städtische Gesellschaft war eine Kreditgesellschaft. Den Christen war dabei das Kreditgeschäft verboten. Geldverleiher waren daher oft wohlhabende, jüdische Familien.

Zu einer solchen wohlhabenden, jüdischen Familie gehörte auch die Witwe Frau Minne und ihre beiden Söhne Moysse (genannt Moshe) und Mordechai (genannt Gumprecht), deren Siegel wir soeben betrachtet haben. Sie lebten in der Brunngasse 8.

Brunngasse 8

Brunngasse 8

Frau Minne war mit dem Mann Menachem (auch Memlin genannt) verheiratet. Er starb zwischen 1305 und 1324 und hinterliess ein gewaltiges Vermögen.

Ihr Sohn, Mordechai kümmerte sich um den Geldhandel.

Sein Bruder, Moshe war Talmudsgelehrter und Schulmeister (Vorsteher der Judenschule, die Synagoge genannt wurde). Er wird als Rabbiner bezeichnet. Das ist die hebräische Bezeichnung für (mein) Meister, womit ein herausragender Gelehrter ausgezeichnet wurde. Rabbi Moses ist vermutlich der Autor des rabbinischen Gesetzeswerks: Der Zürcher SeMa"Q (Sefer Miswot Qatan). Dafür hat er Gesetzeskommentare von anderen Autoren zusammengetragen (vgl. Kaufmann, 158). In diesem eigenständigen Werk werden die Regeln für das jüdische Alltagsleben erklärt, wozu auch die Kleiderkonventionen gehören. Von einem Spitzhut ist da jedoch nicht die Rede. Es wird lediglich empfohlen, eine Kopfbedeckung zu tragen - dies gerade während den Gebetszeiten. Die Kopfbedeckung galt dabei als die Unterwerfung unter die göttliche Autorität.

Ich frage mich also, ob die Brüder wohl wirklich diese spitzen Hüte getragen haben oder warum sie sonst den Hut als Zeichen in ihrem Siegel dargestellt haben. Da die Familie sehr wohlhabend war und damit einen privilegierten Status der oberen Bürgerschicht genoss, konnten sie es sich vielleicht auch einfach erlauben, den Judenhut mit einem ständischen Stolz zu tragen.

Was meint die Forschung dazu?

Ich spreche mit Prof. Dr. Schiendorfer, Titularprofessor für Ältere Deutsche Literatur. Er sieht den Judenhut primär als eine Art Symbol in Darstellungen.

Schiendorfer spricht über den symbolischen Gehalt des Judenhuts

Im Folgenden schaue ich mir dieses jüdische Team-Dress in Buchmalereien näher an.

So stelle ich mir Frau Minne vor. Als jüdische Frau hat sie vermutlich eine Kopfbedeckung getragen. Verheiratete jüdische Frauen bedeckten ihre Köpfe, um nicht die Aufmerksamkeit anderer Männer zu erregen.

So stelle ich mir Frau Minne vor. Als jüdische Frau hat sie vermutlich eine Kopfbedeckung getragen. Verheiratete jüdische Frauen bedeckten ihre Köpfe, um nicht die Aufmerksamkeit anderer Männer zu erregen.

Wie sah wohl Moses aus?

Wie sah wohl Moses aus?

Glich Gumprecht seinem Bruder?

Glich Gumprecht seinem Bruder?

Frevel von Juden an einem Bild des Gekreuzigten. (Abb. in Schreckenberg, 271)

Frevel von Juden an einem Bild des Gekreuzigten. (Abb. in Schreckenberg, 271)

Hostienfrevel von 1285 in Heiligengrabe bei Techow. (Abb. in Schreckenberg, 279)

Hostienfrevel von 1285 in Heiligengrabe bei Techow. (Abb. in Schreckenberg, 279)

Ritualmord in Bern im Jahr 1294. (Abb. in Schreckenberg, 285)

Ritualmord in Bern im Jahr 1294. (Abb. in Schreckenberg, 285)

Der gelbe Judenstern

Der gelbe Judenstern

Die bildlichen Darstellungen der Juden hielten der Allgemeinheit die judenfeindlichen Stereotypen drastisch vor Augen. Vor allem in christlichen Buchmalereien wurden die Kennzeichnungen der Juden zunehmend als stigmatisierende und diskriminierende Symbole eingesetzt. Die Historikerin Eveline Brugger beschreibt den Judenhut als "zunächst wohl ein freiwilliges, traditionsbewusstes Unterscheidungsmerkmal“, das „zu einem aufgezwungenen, stigmatisierenden Kennzeichen“ umfunktioniert wurde (Brugger, 133).

Bildliche Darstellungen transportieren Feinbilder, die sich Christen von Juden machten. Sie wurden als Ritualmörder und Hostienschänder dargestellt und des Bildfrevels beschuldigt. Der Bildfrevel sollte dazu dienen, die alttestamentliche Bilderverehrung der Christen zu diskriminieren (vgl. Schreiner, 85). Beim Hostienfrevel gelangen die Juden zu einer Hostie und schänden diese gewaltsam, um den christlichen Glauben zu prüfen (vgl. Schreckenberg, 276). Und beim Ritualmord würden christliche Knaben von jüdischer Seite ermordet.

Auf allen Abbildungen sind die angeblichen jüdischen Täter deutlich an ihrem Äusseren wie dem Spitzhut zu erkennen.

Die Nationalsozialisten führten die historische Tradition stigmatisierender Kleiderordnung seit 1941 fort, indem sie der jüdischen Gemeinschaft das Tragen eines Judensterns in der Öffentlichkeit verordneten. Viele ihrer antisemitischen Gesetze hatten kirchliche mittelalterliche Vorbilder, waren aber durch Rassenideologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts untermauert worden, zur Vorbereitung der geplanten Ausrottung des europäischen Judentums. Der gelbe Judenstern war eine Weiterentwicklung des gelben Rings, der teilweise neben dem Hut auch ein vorgeschriebenes Kennzeichen für die Juden war. Weitere Bezeichnungen sind Judenring, Judenkreis oder Gelber Fleck.

Eine mittelalterliche bildliche Darstellung, wo der Judenhut (noch) nicht als abwertendes Kennzeichen benutzt wurde, findet sich im Codex Manesse. Das ist die umfangreichste Sammlung mittelhochdeutscher Lied- und Spruchdichtung, die im ersten Drittel des 14. Jh. in Zürich entstanden ist.

Der mit goldgelbem Spitzhut jüdisch gekleidete Süsskind von Trimberg wird in der manessischen Liederhandschrift als Gebildeter gezeigt. Er ist vornehm gekleidet und trägt sogar dieselbe Federstolla wie der Bischof. Der Farbton des Goldgelb seines Spitzhuts geht Ton in Ton mit dem goldenen Stab des Bischofs.

Prof. Dr. Max Schiendorfer bezweifelt jedoch die jüdische Herkunft von Süsskind von Trimberg. Ich werfe mit ihm einen Blick in den Codex Manesse.

137 Miniaturen zeigen im Codex Manesse die Minnesänger in verschiedenen bildlichen Kontexten und gewähren uns einen einmaligen Einblick in die höfische Welt des Mittelalters. Handelt es sich jedoch dabei um einen realitätsgetreuen Einblick?

Wäre Süsskind von Trimberg nur aus einem mittelhochdeutschen Spruchtext als Jude identifiziert worden, wäre der Autor mit dem Erzähler identisch, was den Text authentischer machen würde.

Es gibt im Codex Manesse vergleichbare Beispiele wie die Darstellung von Walter von der Vogelweide und Neidhart. Gemeinsam sind all diesen Bildern das Interesse an biographisierender und individualisierender Porträtierung der Autoren.

Für die Darstellung westlichen Lebens gab es keine Vorschriften und Ordnungen, wie sie sich für die religiöse Kunst entwickelt hatten und von Künstler eingehalten werden mussten. Man war frei in der Erfindung aber doch die Bindung gewohnt und daher bereit, traditionelle Vorstellungen zu übernehmen.
Kurt Martin, Kunsthistoriker

Prof. Dr. Schiendorfer zufolge, muss bei den Kleiderdarstellungen in Buchmalereien mit grossen Überhöhungen und Stilisierungen gerechnet werden - der Realitätsgehalt kann angezweifelt werden.

Schiendorfer spricht über den Realitätsaspekt von Buchmalereien

Es lässt sich also nicht wirklich von den Kleiderdarstellungen in Bildern auf die tatsächlich getragenen Kleidungsstücke in der Realität schliessen. Gilt dies auch für den Judenhut? Wurden die Judenhüte wohl wirklich getragen? Vielleicht waren sie in Realität einfach nicht ganz so hoch und spitz wie auf den Bildern.

Ist an der Diskrepanz zwischen Bilddarstellung und Realitätsanspruch im Codex Manesse was dran? Vielleicht hilft es, die Sache aus jüdischer Sicht zu betrachten.

Walter von der Vogelweide wird so gemalt, wie sein Sprecher im ersten Spruch beschrieben auf einem Stein sitzend über die Welt nachdenkt. (Tafel 45)

Walter von der Vogelweide wird so gemalt, wie sein Sprecher im ersten Spruch beschrieben auf einem Stein sitzend über die Welt nachdenkt. (Tafel 45)

Neidhart erscheint als den Bauernfeind - wie in seinen Liedern entworfen. (Tafel 92)

Neidhart erscheint als den Bauernfeind - wie in seinen Liedern entworfen. (Tafel 92)

Nach Schiendorfer trägt jeder Zweite im Codex Manesse ein Purpur-Mantel, was jedoch realitätsfern ist. Der aus der Purpurschnecke gewonnene Purpur-Farbstoff war so wertvoll, dass er ausschliesslich dem Hochadel vorbehalten war. (Tafel 16 im Codex Manesse)

Nach Schiendorfer trägt jeder Zweite im Codex Manesse ein Purpur-Mantel, was jedoch realitätsfern ist. Der aus der Purpurschnecke gewonnene Purpur-Farbstoff war so wertvoll, dass er ausschliesslich dem Hochadel vorbehalten war. (Tafel 16 im Codex Manesse)

Meister Johannes Hadlaub im Codex Manesse (Tafel 122)

Meister Johannes Hadlaub im Codex Manesse (Tafel 122)

Der Judenhut hat auch Eingang in die jüdische Buchmalerei gefunden. In der Vogelkopf-Haggada, eine illustrierte Handschrift der traditonellen Pessach Haggada aus dem 13./14. Jahrhundert, tragen die Israeliten Judenhüte und haben Vogelköpfe, während die verfolgenden Ägypter „normal“ dargestellt werden.

Fliehende Juden in der Vogelkopf-Haggada

Fliehende Juden in der Vogelkopf-Haggada

Ikonografisch macht sich manchmal auch eine gewisse Beliebigkeit in Bezug auf den Judenhut bemerkbar. Wie zum Beispiel in der Handschrift der Weltchronik des Rudolf von Ems. Sie bildet eines der Hauptwerke der süddeutschen Buchmalerei um 1300 und ist im gleichen Zürcher Umfeld wie die Manessische Liederhandschrift entstanden.

Rudolf von Ems, St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302


Rudolf von Ems, St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302


Hier tragen nicht nur die Israeliten Spitzhüte, sondern auch die Philister:

Rudolf von Ems, St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302


Rudolf von Ems, St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302


Kleidervorschriften gab es nicht nur von christlicher Seite, sondern auch von jüdischer.

Die Tora selbst enthält nur wenige Vorschriften für Kleidung: eine Anleitung für die Priesterkleidung, das Gebot, an den Ecken der Gewänder Zizit (Quasten) mit blauen Fäden anzubringen, nicht die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen und kein Mischgewebe (Scha’atnes) aus Wolle und Leinen zu verwenden.

Die Kopfbedeckung für Männer ist ursprünglich weder biblisches noch rabbinisches Gebot (vgl. Keil 2013). Im alten Israel war die Kopfbedeckung für Männer keine religiöse Pflicht. Sie war nur bei besonderen Anlässen üblich, wie zum Beispiel bei feierlichen Anlässen und später auch beim Beten. Mit der Zeit wurde diese Tradition aber zu einem Brauch. Die Tradition ist im Judentum sehr wichtig und die Bräuche werden nur unter ganz ausserordentlichen Umständen geändert. In der Neuzeit (16./17. Jahrhundert) verbreitete sich das Tragen der sogenannten Kippah, was auf hebräisch soviel wie Kopfbedeckung heisst und eine kleine kreisförmige Mütze aus Leder oder Stoff bezeichnet. Auf Jiddisch wird die Kippah “Jarmulke” genannt, was “Jare Malke” – “Furcht vor dem König” bedeuten soll. Die ultraorthodoxen Juden tragen darüber einen sogenannten Schtreimel, einen Hut aus einem Stück Samt mit einem breiten Pelzrand. Diese Mode stammt von den Juden im jüdischen Siedlungsgebiet "Schtetl" in Polen vom 19. Jahrhundert. Neben dem überdimensionalen schwarzen Krempenhut gehört ein weisses Hemd und einen schwarzen Anzug dazu.

Das Bedecken des Haares der Frau ist hingegen ein Toragesetz (Talmud Sota 72a). Traditionsgemäss bedecken religiöse Frauen ihr Haar entweder mit einem Tichel (Kopftuch), Hut oder einem Scheitel (Perücke). Bis Ende des 17. Jahrhunderts haben jüdische Frauen sich die Haare vor allem mit einem Tichel bedeckt. Als dann in Frankreich Perücken in Mode kamen, machte der Hype auch vor jüdischen Frauen nicht Halt. Die Perücke war die perfekte Alternative zur traditionellen Kopfbedeckung.

Schon in frühesten hebräischen Schriften wird das Haar als sinnlich beschrieben, dessen Anblick nur dem Ehepartner vorbehalten sein sollte. Es gibt eine klare Grenze zwischen Privatleben und dem Miteinander in der öffentlichen Gesellschaft. Das Bedecken des Haares ist ein Zeichen an die Umwelt, dass die Frau verheiratet ist.

Ich möchte mehr zu den jüdischen Kleiderkonventionen erfahren. Dafür spreche ich mit Ingrid Kaufmann. Sie hat Judaistik studiert und arbeitet seit 2010 als E-Learning Koordinatorin an der Theologischen Fakultät in Zürich. Sie hat eine Arbeit verfasst mit dem Titel Jüdisches Leben im Spiegel des Zürcher SeMaQ - Kleiderordnungen als Beispiel für die jüdisch-christliche Auseinandersetzung (2011).

Ingrid Kaufmann

Ingrid Kaufmann

Kaufmann betont, dass auch der bereits erwähnte Zürcher SeMa"Q wichtige Kleidervorschriften behandelt, die drei biblische Vorschriften enthalten: "Das Gebot der Schaufäden, das Verbot, Mischgewebe aus Wolle und Leinen zu tragen und das Verbot, sich Kleider des anderen Geschlechts anzuziehen."

Ging es bei diesem Verbot zum Mischgewebe wirklich um das Material der Textilien an sich? Oder bloss um die optische Wirkung der Kleider? Gestreifte Kleidung zu tragen war nämlich verpönt, denn die mehrfarbigen oder unregelmässig gemusterten Kleiderstoffe waren ein "Anzeichen eines verwirrten Geistes und unsteter Lebenführung" (Keupp, 125).

Der rabbinische Gesetzkommentar zit. in Kaufmann, 167.

Der rabbinische Gesetzkommentar zit. in Kaufmann, 167.

Das mittelalterliche Verb strîfeln bedeutet interessanterweise nicht nur gestreift/bunt machen, sondern auch vermischen (vgl. Lexer & Gärtner, Sp. 1236f). Haben die gestreiften Kleider im Mittelalter womöglich aus dem gemischten Leinen-Wolle-Material bestanden? Dies ist leider nicht nachweisbar (vgl. Kaufmann, 168).

Im 14. Jahrhundert kam es zu einer Vielzahl von Kleiderordnungen, von denen nicht nur die Juden betroffen waren. Die Zürcher Kleiderordnung von 1357/72 schränkte für alle den Gebrauch mehrfarbiger, gestreifter Textilien ein.

„Und sol ouch ir enkeiner […] kein geteilt noch striffat hosen tragen, won d[a]z beid hosen von einer varw sin sulent […]
Zeller/Nabholz, 186

Pastoureau & Knott betonen in ihrem Werk Des Teufels Tuch - Eine Kulturgeschichte der Streifen und der gestreiften Stoffe, dass in einem Diskriminierungssystem die Streifen das herausragende Zeichen schlechthin sind, da sie am meisten auffallen. Es handelt sich nicht um eine Form, wie beim Stern oder beim Hut der Juden, sondern um eine Struktur. Und die Struktur hat wie fast immer in der mittelalterlichen Symbolik und im damaligen Geschmacksempfinden Vorrang vor Formen und Farben.

Die Bettelmönche des Karmelitenordens wurden jahrelang wegen ihrer gestreiften Mäntel diskriminiert, bis sie schliesslich auf die Streifen verzichteten. (Abb. in Pastoureau/Knott, 16 und 17)

Die Bettelmönche des Karmelitenordens wurden jahrelang wegen ihrer gestreiften Mäntel diskriminiert, bis sie schliesslich auf die Streifen verzichteten. (Abb. in Pastoureau/Knott, 16 und 17)

Bunte und gestreifte Kleiderdarstellungen fallen nicht nur bei Buchmalereien auf, sondern auch bei Wandmalereien.

Genau solche Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert wurden in der Brunngasse 8 in Zürich Ende des 20. Jahrhunderts entdeckt. Der Auftraggeber war die jüdische Familie Frau Minne mit ihren Söhnen, die wir bereits kennen gelernt haben.

Stilistisch weisen Malereien in Zürich grosse Gemeinsamkeiten mit der Manessischen Liederhandschrift auf. Wild und Böhmer betonen jedoch, dass die Kleidermode der "Brunnenhof"-Figuren weiter forgeschritten ist als in der Manessischen Liederhandschrift:

Zwar finden sich bei den ersten beiden Nachtragsmalern bereits die gestreiften Gewänder, beim zweiten Nachtragsmaler auch die Zaddeln und beim dritten der hochsitzende Gürtel der zweiten Dame von links auf der Tanszene. Andere Elemente sind der Manessischen Liederhandschrift aber noch fremd. Die Figuren im "Brunnenhof" sind generell gedrungener und breiter und sie wirken weniger höfisch idealisiert.
Wild/Böhmer, 23

An der Ostwand der Brunngasse 8 ist eine Tanzszene dargestellt. Erstaunlicherweise wurden die Bildmotive aus dem christlich höfischen Kontext gegriffen, obwohl hinter der Malerei jüdische Auftraggeber standen.

Die Tanzszene nach einer Zeichnung von Beat Scheffel. (Abb. in Wild/Böhmer, 18)

Die Tanzszene nach einer Zeichnung von Beat Scheffel. (Abb. in Wild/Böhmer, 18)

Aufgeputzte Damen tanzen mit bunt gekleideten Männern einen gemischtgeschlechtlichen Tanzreigen, was der jüdischen Tradition zuwiderlief.
Epelbaum, 68

Auch die Kleiderdarstellungen laufen grundsätzlich der jüdischen Tradition zuwider.

In den Gewändern findet sich eine grosse gestalterische Vielfalt, wobei die bunten und gemusterten Kleider auffallen. Die Männer tragen knielange Röcke, Beinlinge und Schuhe oder sind barfuss. Sie tragen auffällige Kleider mit Karo-, Zickzack- und Streifenmustern sowie Schleppenärmel. Die Damen sind sehr vornehm gekleidet. Ihre Röcke reichen bis zu den spitzen Schuhen. Darüber tragen sie verschiedene Übergewänder. Eine Frau ein langes Kleid mit halblangen Ärmeln. Eine Andere ein knielanges ärmelloses Kleid mit Zaddeln. Als Zaddeln werden meist bogig geschnittene Stofflappen an Säumen bezeichnet. Und eine weitere Dame trägt einen Tasselmantel, ein Mantel, der durch Verknotung der beiden auf der Brustseite befindlichen Tasseln geschlossen wurde. Zwei Damen tragen eine Art Schleier und die dritte hat einen breiten Pelzhut auf dem Kopf (vgl. Wild/Böhmer, 17).

So könnte die Tanzszene farbig ausgesehen haben.

So könnte die Tanzszene farbig ausgesehen haben.

Die Figuren in ihren bunten und gestreiften Gewändern erinnern ein bisschen an eine Gruppe von Musikanten in der manessischen Handschrift. Musik, Farben und Streifen hängen irgendwie immer zusammen. Musiker, Spielleute und Gaukler waren zu dieser Zeit nicht sehr angesehen.

Meister Heinrich Frauenlob im Codex Manesse. (Tafel 129)

Meister Heinrich Frauenlob im Codex Manesse. (Tafel 129)

An der Wandmalerei finden sich also dieselben Motive wie aus dem Codex Manesse. Wie soll man das deuten? Teilten die Juden dieselbe Kultur wie die Christen?

In der Buchmalerei im Codex Manesse wird eine biographisierende Nähe zwischen Spruchtext und Autorenbild hergestellt. Hingegen erkennt Kaufmann in den Wandmalereien eine Abweichung zwischen Bild und Text, gerade wenn es um die Kleiderdarstellung geht. Es ist ein Widerspruch ersichtlich zwischen den Kleidern der Leute, die all möglichen Farben und Muster - auch Streifen! - aufweisen und dem Gesetzestext Rabbi Moses, wo er sich gegen solche Kleidung ausspricht.

Dieser Widerspruch muss jedoch nicht zwingend als solcher gesehen werden. Auch wenn das Verhalten und die Bekleidung der dargestellten Figuren keineswegs dem Lebenstil und den Vorstellungen der mittelalterlichen Juden entsprachen, musste dabei ihr Wertesystem nicht in Frage gestellt werden:

Das Bild musste nicht Spiegel der eigenen Lebensweise sein.
Kaufmann, 172

Es handelt sich bei dieser Tanzszene zudem vermutlich um eine Parodie (vgl. Böhmer, 340). Als literarisches Vorbild der Szene dient die Dichtung des Minnesängers Neidhart von Reuental, der unsittliche Bauern verspottete, die sich als Adlige verkleideten.

Gerade die nackten Beine der Musikanten in der Wandmalerei zeigen deutlich, dass es bei diesem Tanz nicht ganz so höfisch zu und her ging und es sich mehr um einen Bauernschwank handelt. Die übertriebenen Kleider dienen auch als Zeichen dafür, dass die dargestellten Figuren nicht allzu ernst zu nehmen sind.

Der Einbezug von Parodie und Ironie ermöglichte den jüdischen Betrachtern zudem einen differenzierteren Zugang zu den Bildern, als dies den mittelalterlichen Menschen gewöhnlich zugetraut wird. Vielleicht sahen sie in der Parodie auch eine Bestätigung von Moshes Ablehnung der bunten und gestreiften Kleidern.

Zürich 2018. Zurück in der Gegenwart. Wenn ich künftig der jüdischen Gemeinschaft auf der Strasse begegne, verstehe ich nun ihren Einheits-Look ein bisschen besser, da ich nun ein Stück ihrer Vergangenheit kennen gelernt habe. Wie bei vielen unbekannten Eigenheiten steckt immer mehr dahinter, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag.

Kleider machten also auch im Mittelalter Leute. Die textilen Hüllen waren für die Menschen der Epoche weit mehr als nur willkommener Schutz vor kalter Witterung und unerwünschten Blicken – sie waren substanzieller Bestandteil ihrer sozialen Existenz. Kleidung war früher somit ein Mittel zum Zweck, um auf den ersten Blick eine eindeutig soziale Zuordnung der Menschen zu ermöglichen.

Durch die Darstellung von Kleidung und Mode in mittelalterlichen Handschriften, Bild- und Wandmalereien kann auf die gesellschaftlichen Verhältnisse geschlossen werden und die sozialen und religiösen Unterschiede kommen in der Kleidung zum Ausdruck. Das Spiel mit der Symbolsprache der Kleidung beeinflusste das Leben der Menschen weitreichend, was die Geschichte des Judenhuts belegt.

Ehemals berufs- oder funktionsbezogene Kleidung ist heutzutage ganz in der Alltagskleidung aufgegangen. Es gibt heute nur noch wenige Dress-Codes, an denen sich die gesellschaftliche oder berufliche Stellung des jeweiligen Trägers ablesen lässt.

Da kommt mir zum Beispiel Folgendes in den Sinn: Polizisten tragen immer eine Uniform, Fussballer tragen ihr Einheits-Trikot, Bankangestellte laufen im Anzug herum, und in die Oper geht man(n) / frau nicht mit kurzen Hosen und Top, sondern chic zurecht gemacht im Abendkleid (frau). Hmm, warum gibt es eigentlich die Kleiderkonvention, dass Männer keine Abendkleider tragen können? Nun, das ist eine andere Story.

Diese Story handelte von der schwarzen traditionellen Tracht der orthodoxen Juden. Und von gelben Spitzhüten.

Schwarz ist das neue Gelb.

Da frage ich mich nur: Wie wird sich diese Religionsgemeinschaft in sechshundert Jahren kleiden?

Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.

Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.