Andys Lied

Eine Geschichte aus Bloomington

Eine Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Wenn am Ende Schokolade ins Spiel kommt, heisst das noch lange nicht, dass die Geschichte ein Happy End hat.

Ich traf Andy vor bald zwei Jahren in der Monroe County Public Library. Diese Gemeindebibliothek an der Kirkwood Avenue in Bloomington ist offen für alle Medien und Nutzer. Ganz besonders begehrt ist Level Up, das Multimedia-Studio, das jeder gratis benutzen darf. Auch Andy, der Penner. Dort machen Kids Demo-Aufnahmen mit ihren Bands, andere edieren Sportvideos und ich habe mir oft ein Studio reserviert, einfach so oder um die Audio-Software auszuprobieren. Wenn ich mit anderen dort war, machten wir Aufnahmen für Hörspiele, Poesiefilme oder Audiostationen für Ausstellungen und Projekte mit meinen amerikanischen Studierenden.

Andy traf ich nur einmal im Tonstudio. Mit zusammengeflicktem Ohr und geschätzten vier Zähnen im Mund sass er vor dem Aufnahmestudio Nr. 2, das ich reserviert hatte. Er spielte auf der Leihgitarre und sang dazu wie ein alter Kater. Als er mich sah, setzte er eine sendungsbewusste Miene auf, denn ich war seine Chance. Hey, you need an artist like me. Andy liess nicht locker. Die Sprecher, mit denen ich arbeiten wollte, waren noch nicht da.

Tell me your story. Andy war das zweitälteste von fünf Kindern. Sein Vater hatte in einem der Limestone Quarries gearbeitet, die es noch vor zwanzig Jahren draussen vor dem Städtchen gegeben hatte. Der Sandsteinbergbau in Indiana lieferte das Material für stilvolle Fassaden von San Francisco bis Boston. Indiana limestone kam in ganz Nordamerika zum Einsatz. Die Stoners und das Städtchen wurden berühmt durch den Film Breaking Away".

Breaking Away (1979)

Birds of a feather

Andy wuchs in einem engen Trailer in Süd-Indiana auf, im crawl space unter dem Trailer säugte ein Opossum seinen Wurf. Die nächste Tankstelle war zehn Meilen entfernt, eine CVS Pharmacy und eine Kirche, that's it. Andys Familie lebte wie in einer Sardinenbüchse, im Winter, wo zwanzig Minusgrade Fahrenheit keine Seltenheit waren, wurde die Enge unerträglich. Andy suchte mit der stillen Verzweiflung, die nur Kinder in verstockten Familien kennen, einen Ausweg. Er fand ihn im Singen. Wenn er sang, war der ganze Midwest sein Wohnzimmer, wenn er sang, flog er in die Höhe, so wie der Gegu im Weltall, von dem Stiller Haas singt, nur eben amerikanischer. Andy hatte den Hebel gefunden, mit dem er seine kleine Welt auf eine eigene Bahn stemmen konnt.

Später wurden er (und fast gleichzeitig auch sein Vater) homeless wie all die andern, die ins Collegestädtchen strömten. "Birds of a feather flock together" (gleich und gleich gesellt sich gern). Andy und seine Kollegen lebten nicht miteinander, aber immerhin nebeneinander.

Die Verwahrlosung im ländlichen Indiana fiel ins Auge, besonders im College-Städtchen, weil es dort Geld und Kirchen gab. Heroin und neuerdings Medikamente aus der Veterinärmedizin, die aus China geliefert werden, verschärfen die Lage, Todesfälle durch Überdosis häufen sich. Für Heroin hatte Andy kein Geld, dafür aber seine Lieder.

Drei Minuten für Andy

Okay, Andy, sagte ich, you get three minutes. Andy griff mit Inbrunst in die Saiten, als ob sein Lied die Welt erlösen könnte. Andy gab alles.

Andys Lied

Beim Abschied klaubte er Bonbons aus seiner Hosentasche und gab sie mir. Ich bot anihm ein Stück Schokolade und behielt die Verpackung. Eine Hülle, eine Anmutung in der Nase und Andys Lied - das ist alles, was mir geblieben ist.

Als Andy und ich mit der Aufnahme fertig waren, kamen die Sprecher. Einer von ihnen war Pedro Lenz, der Berndeutsch nach Bloomington brachte und mit dem auch Mister Hooper Freundschaft schloss. Das aber ist eine andere Geschichte.

Das ist eine von zwei Geschichten, die ich für die Studierenden meines Seminars Brunngasse 8 und Film (Frühlingssemester 2018, Universität Zürich) gemacht habe, um sie in Multimedia-Storytelling einzuführen.