Esther

Sie schaut sich um. Wo sie ist, weiss sie. Seit Jahrhunderten blickt sie ins selbe Treppenhaus. Obwohl: das Haus hat sich mit den Jahrzehnten verändert. Auch die Menschen, die tagein und tagaus an ihr vorübergingen, blieben nicht dieselben.

An diese Veränderungen hatte sich Esther gewöhnt. Sie fand es sogar interessant und es brachte etwas Abwechslung in ihren Alltag. Tanzen ist zwar lustig, doch mit der Zeit geht es auf die Knochen. Und die grössten Tänzer waren diese Bauern auch nicht gerade.

Und doch: Dass sie sie jetzt aus dem Bild geschubst haben, hatte sie nicht erwartet. Eine übertriebene Reaktion auf eine kleine Streitigkeit. Sollte es sich Esther etwa gefallen lassen, wenn man ihr ständig auf die Füsse tritt?

Neugierig steigt Esther die Stufen der Treppe hinunter. Obwohl sie nicht weiss, was sie erwartet, und obwohl sie dieses Gefühl einschüchtert, geht sie entschlossen der Tür entgegen.

In diesem Augenblick wird die Tür von der anderen Seite aufgestossen. Esther gelingt es gerade noch, zur Seite zu springen. Das grelle Licht der Nachmittagssonne blendet sie. Neben sich sieht sie eine alte Frau, vollbeladen mit Tüten. Die Frau stellt schnaufend die Säcke auf den Boden und wühlt in einem Beutel. Esther fühlt ihr Herz klopfen. Sie versucht, sich in der Ecke an der Mauer klein zu machen.

„Merda!“ Die Frau flucht leise. Schliesslich hält sie einen grossen Schlüsselbund in der Hand und greift mit der anderen nach der Tür. Esther erkennt ihre Chance und schlüpft durch den Spalt nach draussen. Hinter ihr schlägt die Tür lautstark ins Schloss.

„Peperoni, Zucchetti, Salat… und vielleicht etwas Mais? Natürlich Grilladen. Aber auch vegane, Mary kommt auch. Gut, bis später, tschüss!"

Ich mag den Mai. Die Tage werden langsam heller und wärmer. Ausgiebigen Grillabenden steht nichts mehr im Weg. Auch heute Abend ist einer bei mir und meinem Freund geplant.

Ich überlege gerade, ob ich Tim und Sandy ebenfalls eingeladen habe, als ich eine junge Frau wahrnehme. Sie kniet vor einer Holztür. Ihre Kleidung fällt mir sofort auf. Das grob gewobene Überkleid, die langärmlige Bluse darunter. Und die seltsame Kopfbedeckung.

Danach sehe ich ihr Gesicht. Die Augen suchen etwas, nervös wendet sie den Kopf hin und her. Plötzlich begegnen sich unsere Blicke. Sekundenlang starren wir uns an – dann schlägt sie die Augen nieder.

Mein erster Gedanke ist: Hör' auf zu starren und geh' weiter! Als eingefleischtes Landei kommen einem die Grossstadt und ihre Bewohner manchmal seltsam vor.

Doch etwas hält mich zurück. Intuitiv gehe ich auf die Frau zu. Sie hat ihren Blick wieder auf mich gerichtet und scheint abzuwarten. Sie wirkt ängstlich und beobachtet jeden meiner Schritte.

 „Geht es dir gut? Are you okay?“, frage ich. Die Frau legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. Ich versuche es nochmals auf Deutsch: „Ist alles gut bei dir? Brauchst du einen Arzt?“ Jetzt schüttelt die Frau den Kopf.

„Mein Name ist Esther.“ Sie hört sich jung an, zumindest jünger als ich. Schätzungsweise 20 Jahre. „Ich bin Virginia. Darf ich mich zu dir setzen?“. Esther nickt. Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und setze mich neben sie vor die Holztür.

„Woher kommst du?“ Vielleicht kann ich durch eine einfache Frage den Dialog aufrechterhalten.

„Das kann ich nicht so genau sagen. Durch diese Tür bin ich gekommen und dann… dann bin ich auf diese Welt gestossen.“ Sie macht eine ausladende Handbewegung. „Was meinst du mit ‚diese Welt‘?“, frage ich überrascht nach. Der Grillabend ist längst vergessen.

Ich habe oft über die Geschichte, die Esther mir dann erzählte, nachgedacht. Dass sie aus einem Bild im Treppenhaus dieses Hauses stammt und dass sie normalerweise mit anderen Figuren in den Tag tanze. Dass sie ihre Tanzpartner aus dem Bild geschubst hätten.

Ich kannte die spätmittelalterlichen Malereien an den Wänden der Brunngasse 8 schon vor Esthers Geschichte. Während meines Geschichtstudiums habe ich sie gesehen, im Rahmen eines Mittelalterkurses. Viel wusste ich aber nicht mehr - nur, dass sie eine jüdische Familie im 14. Jahrhundert in Auftrag gegeben hatte.

Malerei Ostwand, Brunngasse 8 (Archäologie Zürich)

Malerei Ostwand, Brunngasse 8 (Archäologie Zürich)

"Was machen wir jetzt?" Esther schaut mich unsicher an. Ich sehe, dass diese Welt ihr Angst macht. Jedes Geräusch lässt sie zusammenzucken. Esther kann nicht hierbleiben.

Ich überlege. "Das Vernünftigste wäre wohl, so viel wie möglich über dieses Haus und die Malereien in Erfahrung zu bringen. Vielleicht kriegen wir heraus, wie du ursprünglich auf die Wand gekommen bist. Es gibt vielleicht einen Weg zurück."

Esther nickt. Sie schaut nervös auf die Menschen, die an uns vorübereilen. Sie spürt die zahlreichen verwunderten Blicke auf ihr und fühlt sich zusehends unwohl.

Obwohl auch mich die Situation nervös macht und ich nicht ganz einordnen kann, was da gerade passiert, will ich Esther helfen. Ich schlage vor, die nur wenige Meter entfernte Zentralbibliothek aufzusuchen. Wenn wir einen Weg zurück finden wollen, müssen wir mehr über die Brunngasse 8 wissen.

"Was sind das für Ungeheuer?"

Esthers Augen werden gross. Sie zeigt auf den Parkplatz vor der Zentralbibliothek. Ihre Fingernägel bohren sich in meinen Arm. "Das sind Autos. Mit denen bewegen sich die Menschen fort", erkläre ich. Esther schaut mich an. Skeptisch fragt sie: "Und wo sind die Pferde? Mit den Wagen?" Ich erkläre ihr, dass es diese Dinge immer noch gibt. Auf weitere Ausführungen zu Motoren verzichte ich allerdings.

Nachdem wir die Zentralbibliothek betreten haben, entspannt sich die unfreiwillige Zeitreisende. Die Räumlichkeiten sind angenehm leer und wir suchen uns einen Platz im Magazin. Ich möchte Esther nicht noch mehr neugierigen Blicken aussetzen.

Esther sieht sich um. Sie zeigt auf einen Computer. "Was kann dieses... Ding?" - "Damit werden wir herausfinden, was es mit der Brunngasse 8 auf sich hat", antworte ich. Der Bildschirm erhellt sich, als ich die Maus berühre. Ich erwarte erneut Esthers Fingernägel zu spüren. Doch nichts passiert. Sie starrt mit offenem Mund auf die Wunderkiste.

Ich logge mich mit meinem Universitätsaccount ein und suche im Rechercheportal nach Beiträgen zur Brunngasse 8. Es gibt zahlreiche Einträge. Ich klicke mich durch Inhaltsverzeichnisse und finde in einem Bericht der Zürcher Denkmalpflege den Artikel von Dölf Wild und Roland Böhmer, von dem ich mir einen guten ersten Überblick erhoffe. Leider ist das Buch nicht verfügbar. Vielleicht versuche ich es zuerst mit der Geschichte der Juden in Zürich?

Ich stosse auf eine Übersichtsdarstellung von Annette Brunschwig. Hört sich vielversprechend an. Zusätzlich wähle ich ein Werk aus, in dem es um die Motive von spätmittelalterlichen Wandmalereien geht. Darin finde ich sicherlich nützliche Querverweise.

Schnell kritzle ich die Signaturen auf einen Zettel. "Esther, ich hole schnell die Bücher, bleib bitte hier, in Ordnung? Esther?" Ich drehe mich ruckartig um. Wo ist sie?

Mein Herz rast, mir wird heiss. Wie konnte ich sie aus den Augen lassen?

"Esther?" flüstere ich. Meine Augen suchen die Bücherregale ab. Ich entdecke sie nicht.

"Hey, du! Leg das sofort wieder hin!"

Schnell laufe ich in die Richtung, aus der der ärgerliche Ausruf kam. Und tatsächlich. Zwei Ecken weiter steht Esther mit einem alten Buch in der Hand. Vor ihr hat steht ein Mann, allem Anschein nach ein Angestellter. "Du sollst das Buch bitte wieder hinlegen. Das sind alte Bestände, die man bestellen muss", sagt er.

"Sie hat das nicht gewusst. Ist eine Austauschstudentin. Entschuldigen Sie bitte!" Ich nehme Esther das Buch aus der Hand und lege es auf den Stapel neben dem Mann. "Komm", flüstere ich.

Wir ziehen uns an unseren Platz zurück. Esther setzt sich auf einen Stuhl und ich hole die Bücher. Tatsächlich finde ich viele Querverweise. Besonders spannend finde ich die Verknüpfung zur Neidhart-Tradition. Die wiederum steht in enger Verbindung mit dem Zürcher Codex Manesse, einer spätmittelalterlichen Liederhandschrift. "Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg", sage ich zu Esther. Keine Antwort. Ich hebe meinen Kopf. Sie steht unweit von mir zwischen den Regalen und blättert in einem Buch.

"Was hast du da?" frage ich. "Ich hatte noch nie ein Buch in der Hand", antwortet sie. "Sie sind sehr kostbar. Ihr müsst unglaublich reich sein, wenn ihr so viele davon habt."

Der Moment ist gekommen, denke ich. "Esther, ich muss dir kurz etwas erklären. Setz dich bitte. Du hast ja bereits gemerkt, dass viele Dinge hier anders sind, als du es gewohnt bist. Du bist aber nicht in einer anderen Welt, sondern in einer anderen Zeit gelandet. Wir schreiben das Jahr 2018. Du bist, nun ja, also etwa 700 Jahre alt."

Esther atmet tief ein und aus. Sie hat die Augen geschlossen. So sitzen wir uns einige Sekunden gegenüber. "Gut", sagt sie schliesslich, "du sagst mir also, dass das immer noch dieselbe Welt ist?" - "Genau. Ich sage dir das, weil ich vom Mittelalter erzählen werde. So nennen wir heute deine Zeit." Esther scheint zu resignieren. "Ich möchte einfach wieder tanzen", flüstert sie. "Gut. Möchtest du nun hören, was ich herausgefunden habe?" Sie nickt.

"Die Wand, auf der deine Malerei angebracht wurde, gehörte zu einem spätmittelalterlichen Festsaal", erzähle ich. "Es gibt noch drei weitere Wände, auf denen ebenfalls Malereien entdeckt worden sind. Bei einer Renovation, ähm, entschuldige, als man den Innenraum ausbessern wollte, wurden die Bilder entdeckt. Sie sind ca. um 1330 entstanden. Während dieser Zeit bewohnte eine jüdische Familie das Haus. Der Name der Hausherrin war Frau Minne. Sie lebte zusammen mit ihren Söhnen Moses und Gumprecht an der Brunngasse 8."

Esther schaut mich aufmerksam an. "Dann haben sie die Bilder malen lassen", schlussfolgert sie. "Das ist zumindest die Meinung der Forscherinnen und Forscher. Ich denke, davon können wir ausgehen", antworte ich, "zudem muss die Familie sehr wohlhabend gewesen sein. Hier steht, dass Frau Minne oft als Geldgeberin auftrat. Sie vergab grosse Summen als Kredite gegen Zins. Das war wahrscheinlich ihr Beruf. Einer ihrer Söhne, Moses, war ein Rabbi und Gumprecht ging wohl seiner Mutter zur Hand." Ich tippe auf das aufgeschlagene Buch von Brunschwig und erzähle Esther, dass Frau Minne und ihr früh verstorbener Mann Menlin wohl noch eine Tochter hatten. Diese wird jedoch in keiner Quelle namentlich erwähnt. "Unser Wissen beschränkt sich also auf das Leben der Witwe Minne, Moses und Gumprecht", schliesse ich meine Ausführungen ab.

Esther legt den Kopf schief. "In meiner Malerei tanzen wir einen Reigen. Ist das denn ein typisch jüdisches Motiv?" - "Nein, das ist aber eine spannende Frage! Das einzig wirklich jüdische sind die hebräischen Schriftzeichen beim Wappenfries. Das ist der Teil des Bildes, wo verschiedene Wappen abgebildet sind. Es sind die Symbole der zu dieser Zeit einflussreichen Familien." Zwischen den Büchern ziehe ich das mit dem neueren Beitrag von Roland Böhmer zum Neidhart-Motiv hervor. "Dieser Autor schreibt einiges zum Motiv auf der Ostwand. Das ist die Wand, auf die du gemalt wurdest. Also, auf der du bist." Ich merke, wie seltsam dieser Satz klingt. Schnell fahre ich fort: "Allem Anschein nach ist er der Meinung, dass auf der Wand kein höfischer Tanz abgebildet ist, sondern eine Parodie davon." - "Was soll das heissen? Wer hat behauptet, dass wir höfische Figuren sind?" Esther wirkt verstimmt. "Niemand hat das behauptet. Es geht Böhmer darum zu zeigen, dass die Malerei eben keine höfische Tanzszene abbildet", versuche ich sie zu beruhigen, "In der heutigen Forschung spricht man von höfisch, wenn man die Lebenswelt des spätmittelalterlichen Adels meint. Böhmer wollte zeigen, dass ein anderes Motiv hinter dieser Tanzszene steckt." - "Und was wäre das?" Meine mittelalterliche Gefährtin verschränkt die Arme und stand auf. "Dazu muss ich etwas weiter ausholen", sage ich und krame ein weiteres Buch unter dem Stapel hervor, "Hast du schon einmal etwas von der Manessischen Liederhandschrift gehört?"

"In Zürich gab es eine Familie namens Manesse. Rüdiger I. Manesse war ein Ritter und zählte damit zur Oberschicht der Gesellschaft. Sein Sohn Johannes und er sammelten Minnelieder. Illustriert werden die Liebesdichtungen mithilfe von über 130 Miniaturen. Sie sind mit grösster Sorgfalt erstellt und eingefügt worden. Die Herren Manesse haben zusammen mit ihrem Vertrauten Johannes von Hadlaub, seines Zeichens ebenfalls Minnesänger, die Lieder gesammelt und als Band aufbereiten lassen. Das muss am Anfang des 14. Jahrhunderts gewesen sein. Heute liegt der Codex Manesse gut behütet in Heidelberg. Es ist die grösste Sammlung von spätmittelalterlichen Minneliedern, die es heute noch gibt. Sie ist von unschätzbarem Wert.

Es gibt zahlreiche Abschriften und Editionen - viele Forscher haben sich mit den Liedern und den Motiven dahinter befasst. Neidhart von Reuental war ebenfalls ein mittelhochdeutscher Dichter und seine Werke befinden sich auch im Codex Manesse."

Ich hole Luft. Esther hat sich wieder auf ihren Stuhl gesetzt. "Du denkst also, dass die Malerei mit den Motiven aus dem Manessebuch zusammenhängen?", fragt sie. "Das könnte ein Anhaltspunkt sein. Es ist wahrscheinlich, dass mehrheitlich bekannte Lieder in die Sammlung aufgenommen worden sind. Das bedeutet, dass die Zürcher Oberschicht die Motive der Neidhart-Dichtung kannte. Jeder, der bei Frau Minne und ihren Söhnen zu Besuch war, sah diese Malerei. Und wenn unsere Theorie stimmt, verstand er auch die Botschaft dahinter."

Esther wird nun doch etwas nervös. "Was steht dazu im Buch? Was ist die Botschaft meiner Malerei?" - "Nach Böhmer handelt es sich bei diesem Tanz um eine Szene aus Neidharts sogenanntem Veilchenschwank. Der adlige Neidhart entdeckt auf der Wiese ein Veilchen. Er deckt es mit seinem Hut zu, um es seiner holden Angebeteten später zu zeigen. Die Bauern klauen jedoch das Veilchen und legen einen...", ich schlucke heftig, "einen Kothaufen unter den Hut. Damit wollen sie Neidhart vor seiner Dame blossstellen. In einigen Überlieferungen führen die Bauern danach einen Tanz auf. Dabei wurden sie vom Dichter Neidhart bewusst tölpelhaft dargestellt. Sie tragen dabei einigermassen aufgeputzte Kleidung, aber ihre Bewegungen und Gesichtszüge entlarven sie als unadlig. Diese Darstellungsart der Bauern findet sich auch auf den Miniaturen im Codex Manesse wieder. Neidhart wollte damit wohl aufzeigen, dass der wahre Adlige nicht nur an seiner Kleidung erkennbar ist. Das wiederum ist ein gängiges Motiv in der mittelalterlichen Lyrik." Esther senkt ihren Blick. "Ich habe eigentlich immer gerne mit den Bauern getanzt. Sie sind so lustig gehüpft - auch wenn sie mir dabei auf die Füsse getreten sind. Deshalb dachte ich immer, dass unser Bild einfach Fröhlichkeit ausdrücken soll. Aber man hat sich all die Jahre über unser Tun lustig gemacht." Jetzt wirkt sie richtig geknickt.

Ich drücke Esther fest an mich. "Esther, das ist eine Meinung. Niemand von uns kann zurückreisen und Frau Minne fragen, weshalb sie dieses Bild an ihre Wand malen liess", versuche ich sie zu beruhigen, "das ist eine Theorie. Böhmer hat versucht herauszufinden, was der Grund dafür ist, weshalb dieses Bild jetzt da ist." Zusammengesunken sitzt Esther auf dem Stuhl. Ich unternehme noch einen Versuch, sie aufzumuntern: "Ich denke, dass Frau Minne sicherlich gerne gezigt hat, dass sie mit der Literatur der mehrheitlich christlichen Zürcher Oberschicht vertraut war. Doch zu diesem Zweck hätte sie unzählige Möglichkeiten für eine Malerei gehabt. Es gibt so viele verschiedene Motive im Codex Manesse und sowieso in der spätmittelalterlichen Lyrik. Vielleicht fanden sie und ihre Familie diese Geschichte besonders lustig und euer Tanz machte sie wirklich fröhlich. Wenn du das so siehst, habt ihr ihnen, wenn sie euch zugeschaut haben, ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Auch wenn ihr das vielleicht nicht immer mitbekommen habt."

Esthers Gesicht hellt sich auf. "Du könntest recht haben. Obwohl es schon sehr lange her ist, erinnere ich mich an viel unbeschwertes Gelächter um uns herum. Ich erinnere mich auch an das Staunen der Menschen, wenn sie uns betrachteten. Vielleicht war unsere Funktion einfach, die Menschen zu erfreuen."

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Gleichzeitig wird mir klar, dass unsere gemeinsame Zeit bald ein Ende hat. "Du möchtest gerne zurück, oder?" - "Ja, ich werde die Bauern um Verzeihung bitten. Ich bin mir sicher, dass auch ich ihnen fehle. Unter uns, von den Mädchen im Bild bin ich die beste Tänzerin", schmunzelt Esther, "aber bevor ich gehe, würdest du mir die Stadt zeigen? Anfangs war ich doch sehr ängstlich. Nun muss ich zugeben, dass ich neugierig auf eure Welt geworden bin." - "Das mache ich mit dem grössten Vergnügen!", antworte ich begeistert.

Wir schlendern aus der Bibliothek in Richtung Neumarkt. Dort betrachtet Esther den Brunnen und den Turm dahinter. "Er stammt ebenfalls aus deiner Zeit und heisst Bilgeriturm", erkläre ich. "Er heisst so, weil die Familie Bilgeri ihn im Spätmittelalter zu ihrem Familiensitz machte." Esther wendet den Blick auf die zahlreichen Besucher des Restaurants, das sich im Erdgeschoss des Turms befindet. "Hier vermischt sich meine Zeit mit der Gegenwart - das gefällt mir." Ich beobachte die lachenden, erzählenden Gesichter der Menschen. Ich mag den Mai, denke ich.

"Möchtest du noch die Universität sehen? Dort mache ich meine Ausbildung." - "Das würde mich sehr interessieren!", antwortet Esther. Wir machen uns auf den Weg. Plötzlich rennt Esther auf die Hauptstrasse oberhalb unserer Strecke zu und zeigt auf etwas.

"Was ist das schon wieder?", fragt sie begeistert und zeigt auf das Tram. "Das ist ein Fortbewegungsmittel, wie das Auto. Doch es können viele Menschen gemeinsam transportiert werden. Die Schienen", ich zeige auf den Boden, "sind dazu da, dass das Tram auf der Strasse bleibt." Esther kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Sie blickt hinauf zum Hauptgebäude der Universität. "Hier studierst du also", sagt sie nachdenklich. "Genau, ich möchte Lehrerin werden", entgegnete ich. Meine Gefährtin geht schweigend und schaufend neben mir den Hügel hoch. Sie lächelt.

Oben angekommen schlendern wir zur ETH. Nichts geht über die wunderschöne Aussicht von der Polyterrasse über die Stadt. Esther lehnt sich ans Geländer und lässt ihren Blick schweifen. "Sie ist schön, deine Welt", sagt sie, "Die wünderschönen Gemäuer meiner Zeit sind zum Teil noch da. Und trotzdem gibt es viel Neues zu sehen. Alle diese Jahrhunderte haben die Stadt geformt. Eine wunderbare Vorstellung: ineinander verschlungene Zeiten." Ich sage nichts. Still blicken wir über Zürich.

Als Abschluss gehe ich mit Esther runter zum Central und dann der Limmat entlang zurück zur Brunngasse 8.

Hier sind wir wieder. Wo ich vor ein paar Stunden eine verängstigte Frau traf, blicke ich jetzt in ein zufriedenes Gesicht. "Ich bin froh, dass mich die Bauern aus der Malerei gestossen haben. Dadurch konnte ich viel über das Haus, mein Bild und die neue Zeit lernen. Das macht mich glücklich", sagt Esther. "Mich hat es sehr gefreut, dich kennenzulernen. Und wenn dich die Bauern nicht beim Tanzen dabeihaben wollen, kannst du sie ja mit einem von deinen Abenteuern bestechen", ich zwinkere Esther zu.

Ich nehme sie ein letztes Mal in den Arm und flüstere "Aus Wiedersehen". Sie lächelt mich an. Dann kehre ich ihr den Rücken zu und laufe Richtung Zentralbibliothek.

Abschliessende Gedanken:

Die Idee zu Esther kam mir im Zug. Es war eine spontane und völlig intuitive Geschichte, in die ich mich sofort verliebte. Wie würde sich eine Figur aus einer anderen Zeit bei uns fühlen? Was würde sie interessieren? Und: Würde sie bleiben wollen?

Diesen Fragen konnte ich im Rahmen von "Esther" nachgehen. Zugleich wollte ich so viel Wissen und Facts zum Zürcher Mittelalter wie möglich in die Geschichte einfliessen lassen. Natürlich ohne den Storyverlauf zu stören, was zum Teil eine grosse Herausforderung war.

Das Projekt soll aber auch einen didaktischen Wert haben. Mithilfe von Esther und Virginia wird aufgezeigt, wie eine Forschungsfrage bearbeitet werden kann. Das Aufsuchen einer geeigneten Bibliothek, das Recherchieren mittels Stichworten, das Suchen von Querverweisen - das alles gehört zur Forschung. Genauso wie die Tatsache, dass es auf Fragen nicht immer eine Antwort gibt. Weshalb wählte die jüdische Familie gerade die Motive für die Malereien aus? Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren.

"Esther" zu schaffen war manchmal anstrengend und gar frustrierend. Doch mit der tatkräftigen Unterstützung von vielen lieben Menschen war die Realisierung eine spannende Erfahrung.

Mit herzlichem Dank:

Prof. Hildegard Elisabeth Keller - für die kreative Plattform und Hilfe!

Marco Anzidei - für alles, was ein Tandempartner so tut.

Sophie Aigner - für die Darstellung von Esther und die vielen fantastischen Anregungen.

Raffaela della Valle - für die Hilfe als Fotografin und das Finden meiner Schokoladenseite.

Joelle Sigrist - für das schöne Gewand von Esther.

Natascha Branscheidt und Christian von Allmen - für die Betreuung beim Besuch der ZB Zürich.

Constantin Seibt - für die wertvollen Hinweise fürs Schreiben.

Seminarteilnehmer/innen - für das Austauschen, die Hilfe und Offenheit.

Bildnachweis:

- Zentralbibliothek

- Wikipedia commons

- Stadt Zürich (BAZ, Archäologie)

- Raffaela della Valle, Sophie Aigner und Virginia Wyss

Bibliographie:

- Böhmer, Roland: Neidhart im Bodenseegebiet. Zur Ikonographie der Neidhartdarstellung in der Ostschweizer Wandmalerei des 14.Jahrhunderts. In: Blaschitz, Gertrud (Hg.): Neidhartrezeption in Wort und Bild, Krems 2000 (Medium Aevum Quotidianum Sonderband X), S. 30-52. - Böhmer, Roland: Bogenschütze, Bauerntanz und Falkenjagd. In: Lutz, Eckart Conrad; Thali, Johanna; Wetzel, Réne (Hg.): Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihreTräger im Mittelalter. Freiburger Colloquium 1998, Tübingen 2002, S. 329-364. - Brunschwig, Anette et al.: Geschichte der Juden im Kanton Zürich: von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Zürich 2005. - Kaufmann, Ingrid: Jüdisches Leben im Spiegel des Zürcher SeMaQ – Kleiderordnung als Beispiel für die jüdisch-christliche Auseinandersetzung. In: Judaica 67.2, 2011, S. 146-177. - Lutz, Eckart Conrad; Thali, Johanna; Wetzel, Réne (Hg.): Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter, Freiburger Colloquium 1998. Tübingen 2002. - Lutz, Eckart Conrad; Thali, Johanna; Wetzel, Réne (Hg.): Literatur und Wandmalerei II. Konventionälität und Konversation, Burgdorfer Colloquium 2001. Tübingen 2005. - Wild, Dölf; Böhmer, Roland: Die spätmittelalterlichen Wandmalereien im Haus «Zum Brunnenhof» in Zürichund ihre jüdischen Auftraggeber, Zürcher Denkmalpflege, Bericht 1995/96, S. 15-33.

Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.