Die Moses-ben-Menachem-Brücke

Mit dieser Frage beginnt meine Geschichte.

Ich beginne zu recherchieren.

Zuerst einmal: Was ist 1349 in Zürich genau passiert? Wie konnte es zu diesem Pogrom kommen?

Laut Annette Brunschwig verbreitete sich 1348 von Südfrankreich her das Gerücht, "die Juden hätten [...] Brunnen vergiftet und dadurch die Pest ausgelöst." (Brunschwig, 44) Das Gerücht entwickelte sich zu einer richtigen Verschwörungstheorie: "die Araber [...] hätten das Gift geliefert und die Verschwörung finanziert." (Brunschwig, 44)

Eine Verschwörungstheorie mit schrecklichen Folgen: Sie löste "die entsetzlichste Verfolgungswelle des Mittelalters aus, eine Verfolgungswelle, die bis zum Holocaust nie wieder ein solches Ausmass erreichen sollte." (Brunschwig, 44) Mehr als vierhundert jüdische Gemeinden wurden davon erfasst. 1349 schwappte die Verfolgungswelle auch auf Zürich über. In der Chronik heisst es:

"1349 do brand man die Juden Zürichs an sant Mathis abend (23. Februar); won man sprach, si hettind gift in die brunnen getan."
Brunschwig, 45

Es ist nicht klar, wie der Pogrom in Zürich verlief: "Um einen spontanen Auflauf des Pöbels dürfte es sich aber sicher nicht gehandelt haben. Aus anderen Städten [...] weiss man, dass der 'spontane Volkszorn' eine vom Rat erdichtete Formulierung war. Damit versuchten sich die Ratsherren gegenüber dem Kaiser aus der Verantwortung zu ziehen." (Brunschwig, 45)

Viele Ratsherren und Adlige hatten Schulden bei jüdischen Geldgebern und profitierten von deren Tod. Laut Brunschwig waren die Pogrome keine Bewegung der Unterschicht:

"Angehörige der Oberschicht waren häufig die Organisatoren des ‘Judenschlachtens’."
Brunschwig, 45

Welche Rolle Rudolf Brun beim Pogrom spielte, wissen wir nicht. Als Bürgermeister hat er jedenfalls nichts dagegen unternommen. Und als Privatmann hat er später sogar davon profitiert – indem er das ehemalige Haus von Rabbi Moses günstig kaufen konnte.

Das führt mich zur nächsten Frage: Wer war eigentlich Rudolf Brun?

Rudolf Brun stammt aus einem alten Zürcher Adelsgeschlecht. Lange Zeit hatten die Bruns viel Einfluss in Zürich. Doch ab dem 14. Jahrhundert ging es bergab mit ihnen und dem Adel. Die Bürger drängten an die Macht und eroberten die Mehrheit im Zürcher Rat: "Ein halbes Dutzend Geschlechter, insbesondere die Bilgeri, beherrschten den Rat und schlossen die restlichen Familien [...] de facto von der Mitbestimmung aus." (M. Lassner im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS))

Um diese Vorherrschaft zu brechen, schloss sich die adlige Ratsminderheit mit den Handwerkern zusammen. Diese waren ebenfalls unzufrieden, weil sie politisch nicht mitbestimmen durften. 1336 zettelte Rudolf Brun einen Volksaufstand an, die sogenannte Brun’sche Zunftrevolution. Der alte Rat wurde gestürzt, das bürgerlich-kaufmännische Patriziat weitgehend eliminiert. Adel und Handwerker legten eine neue Verfassung vor:

"Ihre wichtigsten Merkmale waren ein [...] Einbezug der nun zünftisch organisierten Handwerker in die städtische Politik sowie die Position eines lebenslänglichen, besoldeten Bürgermeisters."
(M. Illi im HLS)

Von 1336 bis zu seinem Tod 1360 war Rudolf Brun Bürgermeister. Brun zog viel Profit aus seiner Position: Sein Amt war ausserordentlich gut besoldet. Brun war derart dominant, dass er von modernen Autoren mit einem Tyrannen verglichen wird. Er ging mit seinen Gegnern alles andere als zimperlich um. Davon zeugt die Zürcher Mordnacht 1350: Ein Putsch der äusseren Opposition wurde blutig unterdrückt, zahlreiche Gegner getötet. Von den Gefangenen liess Brun 18 rädern und die übrigen köpfen.

"Mit Gesetzen und Waffen": Bruns Büste am Rathaus

"Mit Gesetzen und Waffen": Bruns Büste am Rathaus

Für die Stadt Zürich war Bruns aktive Bündnispolitik wichtig: "Er verband Zürich mit den schwäbischen Reichsstädten, Konstanz, Schaffhausen und Basel, 1351 mit den Waldstätten und 1356 mit dem mächtigsten Partner, den Herzogen von Österreich." (M. Lassner im HLS) Insbesondere dem Bündnis mit der Eidgenossenschaft wurde später grosse Bedeutung beigemessen: 1351 gilt als Jahr von Zürichs Beitritt zur Eidgenossenschaft.

Brun hat Zürich also vorwärts gebracht. Er hat die Stadt in die Eidgenossenschaft geführt und die Handwerker in den Rat geholt.

Doch gleichzeitig war Brun ein Opportunist, der aus seiner Stellung viel Profit zog; ein Machtmensch, der Zürich quasi diktatorisch regierte; und ein Mann, der vor nichts zurückschreckte – auch nicht vor der Ermordung seiner Gegner.

Meine Sympathie hält sich in Grenzen.

Doch geht es hier um Sympathie?

Eine Bekannte sagt zurecht: "Denk mal an Karl den Grossen, der vom Grossmünster auf uns herunterblickt! Was der für Blutbäder angerichtet hat!"

Es scheint also nicht um Sympathie zu gehen. Sondern um Verdienste. Und diese kann man Brun nicht absprechen. Oder etwa doch?

Die neuere Forschung relativiert Bruns Verdienste zumindest. Das sagt auch Simon Teuscher, Professor für Allgemeine Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich. Er ist ein gefragter Experte für Schweizer Geschichte und Geschichtskultur.

Für die bürgerlich-nationale Geschichtsschreibung sei Brun noch ein Musterknabe gewesen, sagt Teuscher. "Über ihn versuchte man, die Zürcher Stadtgeschichte an die Geschichte der Eidgenossenschaft anzubinden. Er habe angeblich den Weg in die Eidgenossenschaft geebnet." Doch das werde heute hinterfragt. Denn eigentlich gebe es die Eidgenossenschaft vor dem Zürichkrieg noch gar nicht: "Sie war damals nur einer von vielen Bünden."

Der Historiker Simon Teuscher ist Experte für Schweizer Geschichte und Geschichtskultur.

Der Historiker Simon Teuscher ist Experte für Schweizer Geschichte und Geschichtskultur.

Auch Bruns Zunftrevolution wird heute kritisch betrachtet: Man hat herausgefunden, dass der Einfluss der Handwerkerzünfte auch nach der "Revolution" gering blieb. Teuscher sagt dazu: "Mit seiner angeblichen Zunftrevolution brachte Brun vor allem sich selbst an die Macht."

Es kommt also noch dicker für Rudolf Brun: Er hat nicht nur eklatante Charakterschwächen – auch seine Verdienste sind gar nicht so gross wie bisher angenommen.

Warum benennt man die Brücke also nicht einfach um?

Simon Teuscher sagt: "Wenn man den Namen ändern würde, könnte das zu einem schnellen Vergessen führen, und das ist nicht das, was wir Historiker am liebsten mit der Vergangenheit machen."

Geschenkt: Vergessen ist keine Option. Doch kann man nicht anders als mit einem Brückennamen an Brun erinnern? Ist die Benennung einer Brücke nicht etwas zu viel der Ehre für einen, der sich viel hat zu Schulden kommen lassen und dessen Verdienste heute infrage gestellt werden?

Ich setze meine Suche fort.

Und finde heraus, dass sich dieselbe Frage auch schon der Zürcher SP-Gemeinderat Dominik Schaub gestellt hat.

1997, ein Jahr nach der Entdeckung der Wandmalereien in der Brunngasse 8, stellte Schaub den Antrag, die Rudolf-Brun-Brücke in "Moses-ben-Menachem-Brücke" umzubenennen.

Das Postulat von SP-Gemeinderat Dominik Schaub

Das Postulat von SP-Gemeinderat Dominik Schaub

Schaubs Postulat ist an der Grenze zur Polemik. Er stellt die Ereignisse reisserischer dar als die Geschichtsschreibung, schreibt Dinge, die auf seiner eigenen Interpretation und nicht auf Fakten basieren. Brun trage beispielsweise "die Hauptverantwortung" für das Massaker an den Juden. Ob das der Fall ist, wissen wir schlicht nicht. Hier wird also Politik gemacht. In seinem Postulat zeigt sich, dass das Ringen um die richtige Form der Erinnerung mit starken Emotionen verbunden ist. Die Frage, wie und an wen man erinnern soll, bewegt die Menschen.

Die Rudolf-Brun-Brücke ist auch ein Heimatwerk: Sie wurde 1913 vom Architekten Gustav Gull erbaut, der aus Altstetten ZH stammte.

Die Rudolf-Brun-Brücke ist auch ein Heimatwerk: Sie wurde 1913 vom Architekten Gustav Gull erbaut, der aus Altstetten ZH stammte.

Das Postulat wirft zudem einige Fragen auf: Möchte Schaub Rabbi Moses als bedeutenden Gelehrten ehren? Oder in erster Linie an die jüdischen Opfer des Pogroms erinnern? Denn das sind zwei verschiedene Dinge. Wenn es um die Erinnerung an die Opfer geht, könnte man die Brücke aber auch "Frau-Minne-Brücke" nennen.

Schaubs Postulat wurde abgelehnt. Doch die Stadt Zürich ging auf das Anliegen ein, für das sich zuvor schon die Journalistin Vivianne Berg eingesetzt hatte: Eine bis dahin namenlose Gasse bekam den Namen "Synagogengasse". Zudem brachte man bei der Froschaugasse 4 eine Gedenktafel für die jüdischen Opfer des Pogroms an.

Warum aber hat sich die Stadt gegen eine Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke entschieden? Stadträtin Esther Maurer sagte damals: "Man kann nicht einfach einen Strassennamen wegwischen und meinen, die Geschichte sei damit erledigt." Das ist einigermassen trivial, aber ist das wirklich ein gutes Argument gegen eine Umbenennung? Die Frage ist ja, ob man weiterhin eine moralisch zweifelhafte Person ehren will. Die Strassenbenennungskommission (ja, Sie haben richtig gelesen, Zürich hat seit 1907 eine Strassenbenennungskommission) schreibt:

"Es ist für die Orientierung nicht hilfreich, wenn die Namen von Strassen ändern."
(Haas, 10)

Das ist verständlich, gerade wenn mehrere Strassen gleichzeitig umbenannt werden. Doch im Einzelfall ist das kein bestechendes Argument. Das klingt, als wäre es eine kognitive Meisterleistung, sich einen neuen Namen zu merken. Weiter heisst es:

"[...] diese Ehrung [ist] Ausdruck einer bestimmten Zeit und ha[t] somit einen historischen Wert."
(Haas, 10)

Wenn das stimmt, dann hätte man ja in Deutschland die "Adolf-Hitler-Strassen" auch nicht umbenennen müssen. Man hätte sagen können, diese Ehrung sei Ausdruck einer bestimmten Zeit und habe einen historischen Wert. Weiter schreibt die Kommission:

"Die Verdienste, für welche der Politiker [...] geehrt wurde[], bestehen trotz der neu bekannt gewordenen negativen Aspekte weiter."
(Haas, 10)

Heisst das, dass es bei der Benennung einer Strasse nur auf die Verdienste einer Person ankommt? Was ist mit ihren moralischen Qualitäten? Moralische Qualitäten werden nicht vollkommen ausgeblendet:

"Personen, die sich in ihrem Leben unmenschlich verhalten haben, kommen [...] nicht in Frage."
(Haas, 9)

Der geplante Le-Corbusier-Platz etwa wurde in Europaplatz umbenannt, weil der berühmte Architekt ein Antisemit war. Doch solche Umbenennungen sind die Ausnahme.

Ein Bedürfnis für Umbenennungen, wie in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg oder beim Zerfall der DDR, scheint es in der Schweiz oder in Zürich jedenfalls keines zu geben. Im Gegenteil: eher ein Bedürfnis für den Status Quo. Als der Tages-Anzeiger über die Umbenennung des Le-Corbusier-Platzes berichtete, rumorte es in der Kommentarspalte:

Nach dem Motto: Komm schon, seid nicht so dünnhäutig, ein bisschen Antisemitismus, das macht doch nichts! Seine Häuser sind trotzdem schön.

Warum aber wird der Le-Corbusier-Platz umbenannt und die Rudolf-Brun-Brücke nicht? Weil die Ereignisse, die mit Rudolf Brun zusammenhängen, weiter in der Vergangenheit liegen? Oder weil Bruns negative Seiten weniger schlimm sind?

Bis wann sind moralische Schwächen noch tolerierbar, ab wann schmälern sie die Verdienste?

Sollte man Strassen überhaupt nach Menschen benennen? Zeugt das nicht von einem veralteten Geschichtsverständnis, von einer "Geschichte der grossen Männer"? Sollte man stattdessen an Ereignisse erinnern, wie das in vielen südamerikanischen Ländern der Fall ist? Platz des 12. September 1848 zum Beispiel?

Es ist höchste Zeit, diese Fragen einer Expertin zu stellen: Charlotte Koch von der Strassenbenennungskommission. Ich mache mich auf den Weg zum Amtshaus 1 am Bahnhofquai, via Synagogengasse, Froschaugasse, Brunngasse und Rudolf-Brun-Brücke.

Im Amtshaus 1 wimmelt es von Polizist*innen: Die Strassenbenennungskommission gehört zum Sicherheitsdepartement. Als mich beim Empfang melde, habe ich das diffuse Gefühl, irgendetwas verbrochen zu haben. Ein Gefühl, das mich jedes Mal beschleicht, wenn ich Polizist*innen sehe.

Und das mich an diesem Nachmittag auch ohne Anwesenheit der Polizei beschlichen hatte: Als ich beim Drehen meine Kameratasche kurz in einem Kleiderladen lassen wollte, fragte die Verkäuferin: "Ist da eine Bombe drin?" Ich lachte, doch es war kein Witz. "Weisst du, ich habe eine gute Menschenkenntnis und bei dir bin ich mir also gar nicht sicher." Dann musterte sie mich eindringlich, bis ich gar nicht mehr anders konnte, als mich verdächtig zu verhalten. Schliesslich durfte ich die Tasche trotzdem da lassen. Nach dem Drehen holte ich die Tasche mit den Worten: "Hallo, ich komme nur kurz meine Bombe holen!"

Ein Terrorist, der ein Interview mit der Strassenbenennungskommission macht: Das wäre auch eine gute Story!

Die "Bombe" um den Hals gehängt, warte ich im ungemütlichen Eingangsbereich des Sicherheitsdepartements und rechne jeden Moment damit, dass ich von einer Spezialeinheit zu Boden gerissen und verhaftet werde.

Stattdessen werde ich nach einer Weile von Charlotte Koch abgeholt. Sie ist eine zackige Frau, die fast druckreif spricht. In ihren Antworten findet sich kaum ein "Ähm". Wenn sie nicht sicher ist, verzichtet sie auf eine Antwort. Sie ist Geschäftsführerin der Strassenbenennungskommission. Diese besteht aus Personen aus verschiedenen Ämtern (Amt für Städtebau, Geomatik+Vermessung, Stadtarchiv, Tiefbauamt, Sicherheitsdepartement). Der oder die Vorsteher*in des Sicherheitsdepartements, derzeit noch Richard Wolff, bald schon Karin Rykart, ist Präsident*in der Kommission. Die Mitglieder treffen sich fünf- bis sechsmal jährlich, um dem Stadtrat Vorschläge für Benennungen vorzulegen. Dieser entscheidet letztlich über die Benennungen. Momentan gibt es aber kaum neue Strassen. Entsprechend wenig hat die Kommission zu tun.

Auch mit Charlotte Koch unterhalte ich mich über die Rudolf-Brun-Brücke. Die Brücke wurde 1913 vom Zürcher Architekten Gustav Gull erbaut. Zunächst hiess sie Uraniabrücke. Erst 1951 wurde sie nach Rudolf Brun benannt. Ich möchte von Charlotte Koch wissen, weshalb die Brücke damals umbenannt wurde:

Das Gespräch mit Charlotte Koch bringt einige neue Erkenntnisse.

Mit der Umbenennung von "Uraniabrücke" in "Rudolf-Brun-Brücke" wollte man den Mann ehren, der Zürich in die Eidgenossenschaft geführt hat. Dass die Bedeutung dieses Bündnisses heute hinterfragt wird, habe ich bereits erwähnt. Doch die Benennung zeigt sehr schön, dass man über Rudolf Brun versuchte, die Geschichte der Stadt mit der Geschichte der Eidgenossenschaft zu verbinden. Und dass man 1951 noch ein viel positiveres Bild von Brun hatte.

Und in diesem Sinne hat Charlotte Koch recht, wenn sie sagt, dass ein Strassenname "Ausdruck einer bestimmten Zeit" sei. Nur sieht man das dem Namen nicht an; es ist daher wichtig, dass die Benennung in einen Kontext gestellt wird – beispielsweise mit einer Informationstafel.

Angeregt wurde die Umbenennung vom damaligen FDP-Stadtpräsidenten Emil Landolt. Das überrascht insofern nicht, als Landolt Präsident der Zunft zur Zimmerleuten war: Für die Zünftler war und ist Rudolf Brun ein grosser Held, da er die Zunftrevolution initiierte – auch wenn deren Bedeutung heute infrage gestellt wird.

Im Gespräch mit Charlotte Koch wird noch einmal deutlich, dass sich die aktuelle Strassenbenennungskommission dezidiert gegen Umbenennungen ausspricht. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens wäre der Aufwand zu gross und es könnte zu unnötigen Auseinandersetzungen kommen. Zweitens besteht kein Bedürfnis für Umbenennungen. Das hat sich auch in der Kommentarspalte des Tages-Anzeigers gezeigt. Und drittens könnte eine einzelne Umbenennung zu einer Kettenreaktion von Umbenennungen führen. Die ersten beiden Argumente leuchten ein. Das letzte Argument ist jedoch ein klassisches "Schiefe-Ebene-Argument" und in meinen Augen nicht schlüssig: Man kann ja durchaus eine Umbenennung vornehmen und gleichzeitig eine andere ablehnen.

Warum wurde der Le-Corbusier-Platz umbenannt, die Rudolf-Brun-Brücke aber nicht? Beim Le-Corbusier-Platz handelte es sich nicht um eine Umbenennung im eigentlichen Sinne, da der Platz erst geplant, aber noch nicht umgesetzt war. Deshalb konnte man ihn problemlos umbenennen.

Laut Koch sind die Menschen heute sensibler in Bezug auf Strassennamen. Auch die Kommission achtet bei der Neubenennung mehr auf moralische Qualitäten. Doch wie das Beispiel "Le Corbusier" zeigt, ist die Kommission bei Benennungen nicht immer sensibel genug.

Um meine Erkenntnisse einzuordnen, treffe ich Ingrid Kaufmann. Sie ist Judaistin und Expertin für Rabbi Moses. Wir treffen uns im Kreuzgang des Grossmünsters. Die Atmosphäre ist um einiges angenehmer als im Sicherheitsdepartement. Ingrid Kaufmann ist eine humorvolle Frau, die immer wieder herzhaft lacht.

Ingrid Kaufmann ist Expertin für Rabbi Moses: Ihre Doktorarbeit handelt vom Zürcher Semak.

Ingrid Kaufmann ist Expertin für Rabbi Moses: Ihre Doktorarbeit handelt vom Zürcher Semak.

Doch das Gespräch beginnt für mich mit einem Schock. Denn auf die Frage, ob sie eine Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke in Moses-ben-Menachem-Brücke begrüsse, sagt Kaufmann: "Moses ben Menachem ist eigentlich eine fast fiktive Person. Es ist nicht klar, ob der Sohn von Frau Minne, der Rabbi der jüdischen Gemeinde und der Autor des Zürcher Semak überhaupt dieselbe Person ist."

Ich schlucke leer. Ich bin immer davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine Person handelt. Muss ich meine ganze Geschichte nun über den Haufen werfen?

Ingrid Kaufmann beruhigt mich: "Es kommt letztlich gar nicht so darauf an." Sie finde es einfach problematisch, eine Brücke nach einer fast fiktiven Person zu benennen. Wenn man an die jüdische Präsenz im Mittelalter erinnern möchte, könne man die Brücke auch "Frau-Minne-Brücke" nennen.

Ob man die Brücke überhaupt umbenennen soll, ist für sie nochmals eine andere Frage: "Darüber kann man diskutieren. Brun war ein Sauhund."

Doch dass eine Umbenennung der richtige Weg ist, bezweifelt sie: "Ich bin dagegen, dass man eine Person aus der Zeit rausnimmt und sagt: 'So, du bist unser Sündenböckli.'" Nicht nur Brun, sondern auch viele andere hätten den Pogrom toleriert und davon profitiert.

Es ist also wichtig, die Strassen- und Brückennamen in einen Kontext zu setzen. Das soll nichts entschuldigen. Aber erst so wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte möglich.

Das Gespräch mit Ingrid Kaufmann bringt mich noch einmal weiter. Ich merke, dass auch meine eigene Haltung differenzierter wird. Am Anfang meiner Geschichte dachte ich: "Brun war ein Sauhund. Die Brücke muss unbedingt umbenannt werden." Mein Stil war dementsprechend polemisch.

Nun denke ich: "Brun war tatsächlich ein Sauhund. Doch das ist kein Grund, die Brücke umzubenennen. Denn über Rudolf Brun kann man an die Schattenseiten einer ganzen Zeit erinnern; Brun steht stellvertretend für eine Zeit, in der die Juden systematisch diskriminiert und immer wieder verfolgt wurden."

Das klingt schon differenzierter als am Anfang. Doch eine wichtige Perspektive fehlt mir nach wie vor: die Perspektive eines Zürcher Juden oder einer Zürcher Jüdin. Denn letztlich geht es in meiner Story ja um die Juden und ihre Geschichte – und wie an diese Geschichte erinnert wird. Über einen Freund erhalte ich den Kontakt zu Jonathan Kreutner. Er ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Er ist Historiker und hat viel zu den Juden in der Schweiz geforscht.

Ich treffe Jonathan Kreutner im Büro des SIG beim Bahnhof Enge. Er ist ein gefragter Mann und hat viel zu tun. Während ich die Kamera installiere, bespricht er noch etwas mit einer Mitarbeiterin. Im Gespräch wirkt er dennoch locker und ist sehr präsent.

Was hält er von der Rudolf-Brun-Brücke? Findet er es in Ordnung, dass die Brücke so heisst? Oder findet er wie Dominik Schaub, dass die Benennung der Brücke "nach dem Hauptverantwortlichen und einem direkten Nutzniesser des Massakers [...] die jüdischen Opfer [verhöhnt]"? Sollte man sie also umbenennen?

Kreutner findet in Bezug auf die Umbenennung der Brücke sehr deutliche Worte: Eine Umbenennung würde überhaupt nichts bringen. Die meisten würden gar nicht merken, dass die Brücke einmal anders hiess, und ein paar wenige würden sich über die "Juden und ihre Macht" empören. Man würde also neue Vorurteile schaffen und nichts zum Geschichtsverständnis beitragen.

Viel wichtiger als die Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke ist für Kreutner die Erinnerung an die jüdische Geschichte der Stadt. Und hier könne Zürich durchaus mehr machen. Viele Leute mussten lange kämpfen, bis die Stadt eine Gedenktafel für die jüdischen Opfer des Pogroms von 1349 anbringen liess.

Die Stadt Zürich habe noch zu wenig erkannt, dass die jüdische Geschichte ein wichtiger Teil der Zürcher Geschichte ist. Es gehe dabei nicht um die Juden als Juden, sondern um die Juden als Minderheit. Am Beispiel der Juden könne man zeigen, wie die mittelalterliche Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten umgegangen ist.

Das ist für mich und meine Geschichte eine sehr wichtige Erkenntnis. Denn mit dieser Erkenntnis gelangen wir wieder zurück zur Brunngasse 8, ins ehemalige jüdische Quartier. Dahin, wo meine Geschichte begonnen hat und wo mir Rabbi Moses und Rudolf Brun zum ersten Mal begegnet sind.

Bis vor kurzem war die Brunngasse 8 für mich noch ein normales Altstadthaus. Doch dann wurde sie zum Leben erweckt und zu meiner ersten Interviewpartnerin. Darauf folgten Gespräche mit der Froschaugasse 4, Charlotte Koch, Simon Teuscher, Ingrid Kaufmann und Jonathan Kreutner. Jeder und jede meiner Gesprächspartner*innen eröffnete mir wieder eine neue Perspektive und half mir so, zu einer differenzierteren Haltung zu gelangen.

Und so ist meine Geschichte nicht nur die Geschichte von Rabbi Moses, Rudolf Brun und ein paar Strassennamen, sondern auch die Geschichte der Entstehung einer Geschichte. Oder mit anderen Worten:

Brunngasse 8
Das ist meine Geschichte
Brunngasse 8
Meine eigene Sicht, ah.

I'm out. (Micdrop)

Quellen

Die Recherchen zu dieser Story stützen sich auf folgende Quellen:

*Annette Brunschwig: Die erste jüdische Gemeinde. In: Ulrich Bär und Monique R. Siegel (Hgg.): Geschichte der Juden im Kanton Zürich: von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Zürich 1995, S. 30-54.

Beat Haas: Was tut eigentlich die Strassenbenennungskommission? In: Stadt Zürich, Strassenbenennungskommission: Eisernes Zeit und Frechenmätteli. Wie Zürichs Strassen zu ihren Namen kommen. Zürich 2008, S. 7-11, URL: https://bit.ly/2ksQF4B.

Martin Illi: Brun'sche Zunftrevolution. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.8.2004, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D30735.php.

Martin Lassner: Brun, Rudolf. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.8.2004, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D18053.php.

Mehr Infos zu den Stolpersteinen, die Jonathan Kreutner im Interview erwähnt, gibt es hier.

© Axel Mauruszat

© Axel Mauruszat

Danke!

Mit dem folgenden Track möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die mich beim Entwickeln meiner Geschichte unterstützt haben. Die wertvollen Inputs haben mir geholfen, eine differenziertere Haltung zum Thema zu entwickeln!

Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.