Der Falke

Vom vornehmen Liebessymbol
zum elitärsten Haustier

An einem Tag im März flatterten zwei Falken an mir vorbei. Die Begegnungen konnten nicht unterschiedlicher sein.

Der erste Falke führt mich ins Katar des 21. Jahrhunderts. Der zweite Falke zur Brunngasse 8 und somit ins Zürich des 14. Jahrhunderts.

Den ersten Falken sehe ich in einer Ausstellung über den italienischen Videokünstler Yuri Ancarani in der Kunsthalle Basel. Ich bin überrascht, als ich ihm begegne, denn der Flyer verrät noch nichts vom Falken.

Yuri Ancarani, Plakat zur Ausstellung, Sculture, Kunsthalle Basel, 2018. Gestaltung: Davide Mosconi.

Yuri Ancarani, Plakat zur Ausstellung, Sculture, Kunsthalle Basel, 2018. Gestaltung: Davide Mosconi.

Ich stehe vor dem letzten Raum der Ausstellung und möchte das Video The Challenge ansehen. Ich überfliege kurz den Ausstellungstext:

«Der Film führt durch die Wüste Katars zu einem Falken-Wettstreit und zeigt den ungezügelten Überfluss und Materialismus junger katarischer Scheiche. Ancaranis Blick ist dabei weder still noch objektiv. Und an manchen Stellen scheint der flimmernde Kamerablick wie der eines wertvollen Falken zu sein – suchend, unruhig, auf seine Beute konzentriert.» 
Yuri Ancarani, Ausstellungstext, Sculture, Kunsthalle Basel, 2018.

Ich betrete den dunklen Saal. Auf eine riesige weisse Wand projiziert, eröffnet mir der Falke in The Challenge während 70 hypnotischer Minuten eine völlig fremde Welt.

Mehrere Zehntausend Franken werden auf einen Falken geboten. Allah hat es so gewollt. Der Falke ist das ultimative Statussymbol unter Scheichen und die Dünen in der Wüste der Schauplatz für Exklusivität. Die Tauben stehen in Käfigen bereit. Hauptsache, man kann den Falken flattern und jagen lassen. Auch ein Falke muss Gassi gehen.

Irritiert, aber dennoch fasziniert vom Saus und Braus der Scheiche verlasse ich den grossen Ausstellungsraum.

Yuri Ancarani, Installationsansicht, Sculture, Blick auf The Challenge, 2016 (rechts) und Wedding, 2016 (links), Kunsthalle Basel, 2018. Foto: Nicolas Gysin / Kunsthalle Basel.

Yuri Ancarani, Installationsansicht, Sculture, Blick auf The Challenge, 2016 (rechts) und Wedding, 2016 (links), Kunsthalle Basel, 2018. Foto: Nicolas Gysin / Kunsthalle Basel.

Ich fahre zurück nach Zürich. In der vorbeiziehenden Landschaft sehe ich immer wieder Falken und Scheiche aufblitzen. Sie gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich will mehr über dieses exklusive Hobby erfahren und beginne auf meinem Smartphone zu recherchieren. 

Sofort lenkt mich Google auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die über einen skurrilen Falkenflug berichtet: «80 Falken reisen im Flugzeug mit Scheich aus Saudi-Arabien» – so wird der Artikel auf Google sensationsreich angekündigt. Tatsächlich soll ein saudischer Prinz 80 Tickets für Falken gekauft haben, um mit seinen gefiederten Lieblingen auf Falkenjagd der (ab-)gehobenen Art zu gehen.

Allright, it's a thing then.

Ein paar Stunden danach begegnet mir der Falke zum zweiten Mal. Im Seminar Brunngasse 8. Literaturgeschichte und Film an der Universität Zürich katapultiert mich der Falke ins mittelalterliche Zürich zurück.

Das Seminar beschäftigt sich mit der spätmittelalterlichen Wandmalerei an der Brunngasse 8. Für die nächste Sitzung lese ich einen Artikel von Wild/Böhmer. Darin sind alle Motive der Wandmalerei beschrieben, die man bei ihrem Fund im Jahr 1996 entdeckt hat. Ich lese und lese – bis ich schliesslich über das Motiv der Falkenjagd stolpere –

Hier ist er wieder, der Falke. Auf der Westwand der Brunngasse 8. Im Mittelalter ist er also auch beliebt gewesen, man malte ihn schliesslich an die Wand. Er soll sogar ein Symbol für die Liebe gewesen sein. Wie das wohl aussieht? Von unserer Professorin erfahre ich, dass die Falkenjagdszene in der Privatwohnung von Silvana Lattmann zu sehen ist. Die bald hundertjährige Italienerin erlaubt uns in wenigen Wochen Eintritt in ihre Wohnung. Wird mich der dortige Falke ebenfalls in den Bann ziehen?

Haustür, Brunngasse 8 und 10.

Haustür, Brunngasse 8 und 10.

Haustür, Brunngasse 8 und 10.

Fest steht an diesem Punkt für mich: Der Falke fasziniert seit Jahrtausenden – bald als Haustier für Scheiche, bald als Liebessymbol für die höfische Gesellschaft. Aber die Frage bleibt: Warum eigentlich?

Ich tauche in die Geschichte des Falken ein.

Die Beziehung zwischen Menschen und Falken ist uralt. Kronasser schreibt, dass die Falken «von altersher das Interesse des Menschen erregt [haben]: durch ihr majestätisches Aussehen, durch ihre gut erkennbare Flugbahn […] und schließlich durch Gier und Geschick bei ihrer Jagd auf Wild des Bodens und der Lüfte» (Kronasser, 68). Die Vögel landeten schliesslich auf den Wappen der Menschen, dienten ihnen als Orakel oder wurden ihre Jagdlieblinge (Kronasser, 68).

Horus. Foto: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/ägypten-grab-deir-el-medineh-3323819/

Horus. Foto: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/ägypten-grab-deir-el-medineh-3323819/

Horus. Foto: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/ägypten-grab-deir-el-medineh-3323819/

Somit blickt auch die Falkenjagd bzw. die Beizjagd auf eine jahrtausendalte Geschichte zurück. Ihre Anfänge hatte sie «vor 3000–3500 Jahren in den Steppen nördlich des Kaukasus und des Kaspischen Meeres» (Medrow, 15). Also nicht in Ägypten, wo der Falke für die Menschen sogar der König der Götter war (Georges, 15), sondern in Zentralasien. Nach einer ersten Begegnung mit den Kimmerern, Skythen, Medern und Persern wurde die Falkenjagd auf drei Wegen weiterverbreitet: «Zum ersten ging die Ausbreitung Richtung Osten bis zu den Mongolen […]. Der zweite Weg verlief von den Sarmaten über die Germanen und mit der Völkerwanderung bis nach Nordafrika. Zuletzt verbreitete sich die Beizjagd aus den Gebieten des heutigen Iran und Irak bis zu den Stämmen Innerarabiens» (Medrow, 15). 

Falkenjagdausbreitung (eigene Markierungen, gestützt auf Medrow, 15). Karte: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/afrika-karte-kontinent-südamerika-1804896/

Falkenjagdausbreitung (eigene Markierungen, gestützt auf Medrow, 15). Karte: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/afrika-karte-kontinent-südamerika-1804896/

Falkenjagdausbreitung (eigene Markierungen, gestützt auf Medrow, 15). Karte: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/afrika-karte-kontinent-südamerika-1804896/

Falkenjagdausbreitung (eigene Markierungen, gestützt auf Medrow, 15). Karte: Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/afrika-karte-kontinent-südamerika-1804896/

Der Falke im Morgenland im 8. bis 13. Jahrhundert

In Arabien wurde die Falkenjagd im 8. Jahrhundert schliesslich zum «Sport der Könige» (Medrow, 15). Laut Georges löste die Falkenjagd einen richtigen Hype aus: Seit «[…] die Araber im Zuge der islamischen Eroberungen zu einer Großmacht aufgestiegen waren und die Kalifen begonnen hatten, sich am Lebensstil der byzantinischen und persischen Herrscher zu orientieren», «[…] sind die Falken aus der arabischen Kultur nicht mehr wegzudenken» (Georges, 25). Zusätzlich wurde die Falkenjagd auch vom Koran abgesegnet: Die Falken waren laut dem Koran «von Gott geschaffen worden, um dem Menschen nützlich zu sein […]» (Medrow, 15). 

Kurz darauf entstand die einflussreiche arabische Falknereiliteratur, die vom 8. bis zum 13. Jahrhundert andauerte:

«Die arabische Falknereiliteratur erlangte Vorbildcharakter für die Beiz im christlichen Abendland. Ein kurzer Blick auf die Blüte der arabischen Falknerei und deren Rezeption im Abendland kann aufzeigen, wie verflochten und international die mittelalterliche Falknerei bereits war.»
Medrow, 15.

Für den Höhepunkt sorgte der Falknereitraktat des Moamin, eine Kompilation von al-Gitrifs und Kitab al-Mutawakkilis Werken (Georges, 9). Denn der Traktat wurde im Abendland nicht nur weit verbreitet, sondern auch in viele europäische Sprachen übersetzt (Medrow, 16). Sogar Kaiser Friedrich II. soll den Moamin in den 1240er Jahren gelesen haben (Medrow, 16).

Der Falke und Kaiser Friedrich II. (1194–1250)

Niemand hatte eine so enge Beziehung zum Falken wie Friedrich II., Kaiser des deutsch-römischen Reiches. Er verfasste sogar ein ganzes Buch darüber: Das Falkenbuch De arte venandi cum avibus.

Dieses Falkenbuch hat es in sich. Es verbindet den Okzident mit dem Orient, wie Medrow erklärt: «Insbesondere durch die Übersetzung des Moamin übte die arabische Falknerei Einfluss auf Friedrichs De arte venandi cum avibus aus» (Medrow, 17). Kennengelernt hat der Kaiser den Falken aus dem Morgenland allerdings schon früher: «[d]urch den starken Kulturkontakt mit dem Orient in seiner Jugend […] sowie auf seinem Kreuzzug und durch seine enge Freundschaft mit Sultan al-Kamil» (Medrow, 17). Friedrich II. schlug also schon früh Brücken zwischen Kulturen!

Der Falken-Trend war im Europa des 13. Jahrhunderts allerdings nichts Neues: Der Falke war bereits im 12. Jahrhundert wieder angesagt. Die ritterliche Gesellschaft sah in ihm ein «ideales Ausdrucksmittel ihrer selbst», ein «Sinnbild adelig-höfischen Lebens» (Georges, 20). Aber Friedrichs II. Beziehung zum Falken und zur Falkenjagd war bahnbrechend. Sie brachte die Falkenjagd auf eine ganz neue Ebene:

«In seinen Händen wurde die Beize zu einer Kunst. An diejenigen, welche diese Kunst beherrschen wollten, stellte er höchste physische und moralische Anforderungen. Scharfsinn und Gedächtnis sollten ihnen ebenso zueigen sein wie Mut und Beharrlichkeit, Ausgeglichenheit und Umsicht, Zucht und Maß.»
Georges, 20-21, meine Hervorhebung.

Die Falkenjagd wurde so abgehoben, dass sie nur noch «vom idealen Menschen und dem vollkommenen Ritter» ausgeübt werden durfte (Wild/Böhmer, 21).

Ich habe bereits vieles über die Falken-Faszination gelernt. Doch wie kommt nun die höfische Liebe ins Spiel?

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 63v – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0122

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 63v – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0122

Der Falke und die Minne

Die Falkenjagd und die höfische Liebe werden im Minnesang miteinander verbunden:

«Wie der Minnesang ist die Falkenbeize eine Angelegenheit des Adels. Eine direkte Parallele ist die moralisch-geistige Grundlage. Sowohl vom Falkner als auch vom Minnesänger/Ritter wurde ein hohes Maß an seelischer, geistiger und körperlicher Vollkommenheit gefordert.»
Ermes, 15.

Dabei bleibt es aber nicht: Die Falkenjagd selber «galt auch als Symbol für die Minne» (Wild/Böhmer, 21). In diesem Zusammenhang verkörpert der Falke «oft […] das Herz des Geliebten» (Wild/Böhmer, 21), während die adlige Frau die Rolle der Falknerin übernimmt. Ihre Aufgabe ist allerdings nicht immer einfach: Sie kann den Falken zwar zähmen aber nie vollends kontrollieren. Sie muss ihn ziehen lassen, wenn er fortfliegen will:

«Wie der Falke gezähmt wird, so wird auch der Ritter von seiner Herrin bezwungen und an sie gefesselt. Und wie bei der Jagd die Gefahr besteht, dass der Falke seine Fesseln abstreift, sich ‹verstösst› und nicht mehr zurückkehrt, so kann sich der Geliebte unversehens aus der Liebesbeziehung lösen.»
Wild/Böhmer, 21.

Somit wird der Falke auch zum Symbol für «die Freiheit, zu lieben, wen man will» sowie «für den untreuen Liebhaber», sofern dieser von einer anderen geschickteren Frau herangelockt wird (Wild/Böhmer, 21).

Kein Wunder begeisterten sich die Minnesänger für den Falken. Mit dem Falken lässt sich die Vielfalt der Liebe ausdrücken. Das kommt besonders in drei Strophen des «Falkenlieds» von der Kürenberger zum Zug (Wehrli, 42):

Die zwei Frauenstrophen beklagen den Liebeskummer der edlen Frau: Da schmückt sie ihren Falken ein Jahr lang und er macht sich mit dem prächtigen Federkleid aus dem Staub – ich würde auch klagen! Die meisten Germanistinnen sehen im Falken das «Symbol des untreu gewordenen Mannes» (Ermes, 17).

Das ändert aber in der darauffolgenden Strophe: Die Frau wird nämlich mit dem Falken gleichgesetzt. In der Forschung gibt es über diesen Vergleich verschiedene Meinungen. Einige finden ihn erniedrigend für die Frau. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie Ermes erklärt:

«Das vederspil,der Falke, gilt für die adlige Gesellschaft als das edelste Tier. Die Gleichsetzung der höfischen Dame mit dem Falken ist nicht im geringsten abwertend gemeint. Im Gegenteil handelt es sich hier um einen Vergleich auf höchster Ebene.»
Ermes, 16.

Somit wird in dieser Strophe gleichzeitig das regelhafte Geschick und Masshalten des Falkners, «den Falken auf seine Faust zu locken» bzw. des Minnesängers, «die Zuneigung der vrouwe zu gewinnen», hervorgehoben (Ermes, 16).

Mit dem «Falkenlied» fliege ich zurück nach Zürich. Denn das Lied ist im berühmten Codex Manesse enthalten, einer Liederhandschrift par excellence. Sie wurde von den Zürcher Adligen Rüdiger Manesse und seinem Sohn Johannes Manesse in Auftrag gegeben.

Das zwischen 1304 und 1340 in Zürich entstandene Prachtstück ist «die bei Weitem umfangreichste deutschsprachige mittelalterliche Lyriksammlung» (Voetz, 6). Die Liederhandschrift beinhaltet neben Liedern aber auch Miniaturen von der Crème de la Crème der mittelalterlichen Dichter – darunter auch der von Kürenberg. Die Miniaturen betten die Dichter in unterschiedlichen höfischen Szenen ein, aber dabei «nehmen das Minnelied und die Minnethematik im Codex Manesse doch eindeutig den größten Raum ein» (Voetz, 11). Daher werden die Minnesänger oft mit ihren Angebeteten abgebildet – und mit dabei ist der Falke!

Er erweist sich als der Vorzeigebegleiter der Turteltäubchen.

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 164v – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0324

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 164v – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0324

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 164v – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0324

Nicht nur die mittelalterliche Lyrik fährt also auf das höfische Falkenmotiv ab – auch die mittelalterliche Kunst.

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 69r – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0133

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 69r – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0133

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 69r – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0133

So überrascht es mich nicht, dass der Falke auf der Hauswand einer reichen Familie landet. Es scheint beinahe ein Muss zu sein für reiche Bürger und Bürgerinnen, einen Falken auf eine Wand zu malen, wenn man mit der gehobenen Kulturszene mithalten will. 

Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Zeitraum 1990–1999. URL: https://baz.e-pics.ethz.ch/#1527001621523_38

Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Zeitraum 1990–1999. URL: https://baz.e-pics.ethz.ch/#1527001621523_38

Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Zeitraum 1990–1999. URL: https://baz.e-pics.ethz.ch/#1527001621523_38

Endlich sehe ich den Falken an der Brunngasse 8. Verblasst, fast unfassbar fliegt er am linken Rand der Westwand herum. Ohne Vorwissen hätte ich diesen farblosen Greifvogel wohl kaum als Falken erkannt.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Nun stelle ich auch fest, dass die Falkenjagdszene gar nicht mehr vollständig existiert. Man sieht nur einen Bruchteil einer einst ausgedehnten Jagdszene (Böhmer, 346).

Baugeschichtliches Archiv...

Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Zeitraum 1990–1999. URL: https://baz.e-pics.ethz.ch/#1527001621523_38

Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Zeitraum 1990–1999. URL: https://baz.e-pics.ethz.ch/#1527001621523_38

Ich möchte diese Szene verstehen. Ich erkenne eine Frau, die durch eine mit Bäumen übersäte Landschaft reitet. Sie ist blond und hat Blumen im Haar. Sie trägt einen Falknerhandschuh: Soeben hat sie ihren Falken losflattern lassen. Der Falke fliegt nach rechts auf ein Federspiel zu, das ein vorangehender Reiter in der rechten Hand hält. Der Reiter trägt einen Hut mit einer gelben Feder und hat blondes, wehendes Haar. Er blickt nach vorne. Am rechten Rand des Bruchstücks sehe ich eine zweite, weiss gewandete Frau mit einem Blumenkranz im Haar – ist sie dieselbe Frau wie in der ersten Bildszene?

Das Bild hat viele Lücken. Wie die ursprüngliche Wandmalerei an der Westwand wohl aussah? Die Antwort auf die Frage bleibt an diesem Punkt verborgen, aber die Bruchstücke bieten trotzdem Stoff für eine Geschichte – man muss nur weitersuchen.

Verkörpert der Falke an der Brunngasse 8 auch das Symbol der Liebe?

Ich ziehe den Codex Manesse zu Rate und finde eine weitere Miniatur, die der Falkenjagdszene an der Brunngasse ähnelt:

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 7r – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0009

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 7r – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0009

Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, 7r – CC-BY-SA 3.0. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0009

Es fällt sofort auf, dass die Falkner in der Miniatur aus dem Codex Manesse auf die gleiche Weise inszeniert werden: Die Frau und der Mann reiten nebeneinander in einem geschmeidigen Tempo voran und sind in einer vornehmen Haltung abgebildet. Ganz anders also als die beiden Falkner auf der Wandmalerei. Dort sind sie weit voneinander entfernt und unterschiedlich dargestellt. Böhmer stellt fest: «Während die Falknerin in vornehmer Zurückhaltung dargestellt ist, wirkt der Mann bewegter» (Böhmer, 347) –  ich würde sogar sagen – ungehobelter. Kann der Mann überhaupt ein Adliger sein? Handelt es sich bei den beiden also überhaupt um ein Liebespaar?

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Möglicherweise nicht. Daher vermutet Böhmer, dass der Dame wohl ein weiterer – nun nicht mehr sichtbarer und möglicherweise adliger – Begleiter gefolgt ist (Böhmer, 348). Allerdings ist das eine Spekulation. Denn auch der hastig reitende Mann könnte ein Adliger gewesen sein (Böhmer, 348).

Und vielleicht waren sie doch auch Liebhaber: In der zweiten bruchstückhaften Szene beobachtet Böhmer, dass der heute fast komplett zerstörte Kopf des Mannes «[...] einst zur Frau gewendet [war]» (Böhmer, 347). Die Frau streckt ihm ihre Arme entgegen. Diese Gesten könnte man als Anzeichen von Intimität deuten.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Ausschnitt Wandmalerei, Brunngasse 8.

Trotz vieler Spekulationen steht eines ziemlich sicher fest: Die Ausmalung auf der Westwand gibt eine Szene aus der höfischen Welt wieder, indem sie die höchste aller Jagdformen darstellt. Zusammen mit dem Deckenfries, dem Wappenfries, der Tanzszene und der Sockeldraperie ist die Falkenjagdszene ein Beispiel für eine exquisite weltliche Wandmalerei aus dem 14. Jahrhundert.

Welche reiche Familie aus der Zürcher Oberschicht hat die Wandmalerei wohl in Auftrag gegeben? Wer besass in dieser Zeit das Haus?

Ich recherchiere die Besitzgeschichte der Brunngasse 8.

Ich werde überrascht. Die Ausmalung im Festsaal wurde um 1330 nicht etwa von Stadtadligen wie der Familie Manesse in Auftrag gegeben – sondern von einer jüdischen Familie. Unter den Wappen entdeckte man beim Fund 1996 kleine hebräische Schriftzeichen. Somit fand man heraus, dass das Haus «Zum Brunnenhof» in dieser Zeit der Jüdin Frau Minne und ihren Söhnen Moyse und Gumprecht gehörte (Wild/Böhmer, 28).

Die Familie war reich, angesehen und gelehrt. Trotzdem erstaunt es, «[d]ass sich diese Juden in eindrücklicher Weise jener Gestal­tungsmittel bedienten, welche die lokale Führungsschicht für sich in Anspruch nahm. Sie konnten und wollten sich offensichtlich als Teil dieser Führungsschicht darstellen» (Wild/Böhmer, 15). 

War die jüdische Familie Teil der Zürcher High Society?

Einerseits wurde der Raum wahrscheinlich für Geschäfte mit der Elite Zürichs und der Umgebung genutzt: «Vielleicht haben sich hier von Zeit zu Zeit Schuldner ein­gefunden, mit denen die Familie Geldgeschäfte abzuwickeln hatte» (Wild/Böhmer, 15–16). Andererseits «haben hier wohl gesellschaftliche Anlässe der kleinen jüdischen Gemeinde Zürichs stattgefunden, denn wahrscheinlich wird die Besitzerfamilie des Saales eine gesellschaftlich führende Position in dieser Gemeinde eingenommen haben […]» (Wild/Böhmer, 16).

In beiden Fällen könnte es darum gegangen sein, die Gäste zu beeindrucken. Sei es bei den adligen Schuldnern oder der jüdischen Gemeinde – die Familie zeigt, dass sie bedeutend ist und Teil der High Society ist: Sie hat das nötige Geld und Stilbewusstsein, um ihr Haus mit einer der prächtigsten Wandmalereien von ganz Zürich auszustatten. In diesem Zusammenhang darf der Falke natürlich nicht fehlen; damit weist sich die Familie als Kenner der Zürcher Kultursszene aus. Was der Falke aber darüber hinaus für sie bedeutet hat, bleibt offen.

Ich fliege zurück in die Gegenwart. Gibt es überhaupt noch Falken-Aficionados? Ich stosse auf eine niedliche Falkennest-Webcam. Die Stadt Zürich hat in einem Nest an der Josefstrasse eine Kamera installiert und überträgt Live-Bilder:  

Live-Falkennestkamera, Grün Stadt Zürich, Naturschutz.

Live-Falkennestkamera, Grün Stadt Zürich, Naturschutz.

Nun ja, ich öffne meine Recherche und suche nach «Falkenjagd Schweiz». Die Beizjagd gibt es tatsächlich noch, wie ich auf der Homepage der Schweizerischen Falkner-Vereinigung erfahre. Ich interviewe den Präsidenten der Falkner, Daniel Kleger.

Daniel Kleger mit Falken. Foto: Schweizerische Falkner-Vereinigung.

Daniel Kleger mit Falken. Foto: Schweizerische Falkner-Vereinigung.

Daniel Kleger mit Falken. Foto: Schweizerische Falkner-Vereinigung.

Der Experte hat sich bereit erklärt, meine Fragen zum Falken zu beantworten:

Wieso fasziniert Sie der Falke?

Hat sich die Falkenjagd seit dem Mittelalter verändert?

Wieso denken Sie, hat die Falkenjagd in unseren Kulturkreisen an Wichtigkeit verloren?

Wieviel kostet ein Falke?

Was denken Sie über die Scheiche, die auf Falkenjagd gehen?

Während bei uns die Falkenjagd in ihrer traditionellen Form bewahrt wird, nimmt sie in den Arabischen Emiraten skurrile Formen an: Wo sie verboten ist, jagt man mit Drohnen und künstlichen Vögeln; ansonsten bucht man ein ganzes Flugzeug und fliegt mit importierten Falken dorthin, wo sie erlaubt ist.

In den arabischen Ländern ist der Falke ein Statussymbol geblieben – bei uns nicht. Aber darüber freuen sich die hiesigen Falkner und der Naturschutz.

Das Gespräch mit Daniel Kleger hat mir gezeigt, dass die Falkenjagd in der Schweiz immer noch wichtig ist: Sie ist zwar kein Statussymbol mehr, aber sie wird als Kulturgut geschützt. 

Aus dem Importprodukt aus Zentralasien ist von Ost nach West ein Kulturgut geworden: Der Falke beflügelt seit Jahrtausenden die Imaginationskraft der Menschen.

Er symbolisiert das fast Ungreifbare – von der Flugkraft bis hin zu Exklusivität, Tugendhaftigkeit, Liebe und Status – oder er erinnert an eine uralte Jagdpraxis.

Der Mensch kann sich ihm annähern, aber kann ihn nie vollends begreifen: Der Falke bleibt ein wildes Tier.

Quellen und Dank

Die Recherchen zu dieser Story stützen sich auf die nachstehend genannten Quellen; wörtliche Zitate sind mit Seitenangabe nachgewiesen. Bildnachweise sind direkt aus den Bildern zu entnehmen. Wenn nichts angemerkt ist, entstammen die Bilder von der Autorin.

Roland Böhmer: Bogenschütze, Bauerntanz und Falkenjagd. In: Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und René Wetzel (Hgg.): Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Tübingen 2002 (Freiburger Colloquium 1998), S. 329–364.

Tonny Ermes: Drei Lieder – ein Motiv. Ein Beitrag zum Falkenmotiv im Minnesang. In: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 30 (1990), S. 15–24.

Stefan Georges: Das zweite Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. Quellen, Entstehung, Überlieferung und Rezeption des Moamin. Berlin 2008.

Heinz Kronasser: Die Herkunft der Falkenjagd. In: Südost-Forschungen 12 (1953), S. 67–79.

Lisa Medrow: Falkenjagd in Arabien im 8.–13. Jahrhundert. In: Mamoun Fansa und Carsten Ritzau (Hgg.): Von der Kunst mit Vögeln zu jagen. Das Falkenbuch Friedrichs II. – Kulturgeschichte und Ornithologie. Mainz am Rhein 2007 (Schriftenreihe des Landesmuseum für Natur und Mensch 56), S. 14–17.

Lothar Voetz: Der Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015.

Max Wehrli (Hg.): Deutsche Lyrik des Mittelalters. Mit 36 Abbildungen aus der Manessischen Liederhandschrift. Zürich 1955 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur).

Dölf Wild/Roland Böhmer: Die spätmittelalterlichen Wandmalereien im Haus «Zum Brunnenhof» in Zürich und ihre jüdischen Auftraggeber. Zürich 1997 (Separatum aus Zürcher Denkmalpflege, Stadt Zürich, Bericht 1995/96), S. 15–33.

Die Autorin dankt Daniel Kleger für die grosszügig gewährte Einsicht in die Falknerei; der Schweizerischen Falkner-Vereinigung, der Kunsthalle Basel, der Universitätsbibliothek Heidelberg, dem Baugeschichtlichen Archiv der Stadt Zürich und Grün Stadt Zürich für die Bereitstellung der Bilder; Manuel Diener und Prof. Dr. Hildegard Keller für ihre aktive Mithilfe.

Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.