ICH POET!

Gottfried Keller über seine Knabenjahre

http://doi.org/10.7891/e-manuscripta-75644

Der Schulgenoß

Wohin hat dich dein guter Stern gezogen,
O Schulgenoß aus ersten Knabenjahren?
Wie weit sind auseinander wir gefahren
In unsern Schifflein auf des Lebens Wogen!

Wenn wir die Untersten der Klasse waren,
Wie haben wir treuherzig uns betrogen,
Erfinderisch und schwärm'risch uns belogen
Von Aventüren, Liebschaft und Gefahren!

Da seh' ich just, beim Schimmer der Laterne,
Wie mir gebückt, zerlumpt, ein Vagabund
Mit einem Häscher scheu vorübergeht –!

So also wendeten sich unsre Sterne?
Und so hat es gewuchert, unser Pfund?
Du bist ein Schelm geworden – ich Poet!

  • HKKA 9, 101

Der Schulgenoß

Gottfried Keller schrieb das Sonett unter dem Titel An einen Schulgenossen am 20. Januar 1846 in sein Schreibbuch, und überarbeitete es später mehrfach. Der Schulkamerad war zuerst ein «Spitzbub», dann ein «Schächer», schliesslich ein «Schelm». HKKA 9, 101; HKKA 25, 250.