Von Sängern und Malern
Die Autorenbilder des Codex Manesse

«Ich sâz uf eime steine / und dahte bein mit beine: / dar ûf satzt ich den ellenbogen / ich hete in mîne hant gesmogen / daz kinne und ein mîn wange. / dô dâhte ich mir vil ange, / wie man zer welte solte leben.»
In Denkerpose sitzt er da, sinniert feingeistig über die Welt und das Leben, erwartet den Kuss der Muse. Er hätte Rodin Model sitzen können, doch liegen über sechshundert Jahre zwischen ihnen. Stattdessen verewigten die Zürcher Walther von der Vogelweide in der einzigarten Bilderhandschrift Codex Manesse auf Pergament.
Doch wer glaubt, einem biographischen Porträt Walthers zu begegnen, den muss ich enttäuschen. Als die Farben für das Autorenbild zu Walther angerührt wurden, lag er bereits seit Jahrzehnten unter der Erde. Und dennoch: Auf dem Bild ist eindeutig Walther von der Vogelweide zu sehen. Allein schon das sprechende Wappen so wie die eindeutige Überschrift «her Walther võ der Vogelweide» sind klare Indizien. Der Dichter hat seine Beine übereinandergeschlagen, stützt auf diesen seinen Ellbogen und schmiegt seinen Kopf in seiner Hand. Walther wird wie das «Ich» in dem von ihm geschriebenen «Reichston» porträtiert. Doch der Maler beschränkte sich nicht auf eine blosse Visualisierung der beschriebenen Szene. Aus dem Stein wurde ein ganzer Dichterhügel, auf Walthers Haupt setzte man eine Krone, und von einem Wappen oder einem flatternden Papierbogen war im Text auch nie die Rede. Mein Blick fällt auf das Schwert, rechts am Dichterhügel, und ich frage ich mich:
Wieso braucht ein Mann der Worte eine andere Waffe als die Feder?
Walther von der Vogelweide ist nicht der einzige Minnesänger, den man im Codex Manesse verewigte. Von den 140 Minnesängern, die in den Codex Manesse aufgenommen wurden, erhielten mit Ausnahme von zwei Sängern alle ein Autorenbild. Die Maler des Codex Manesse gaben sich nicht damit zufrieden, einfach nur nachdenkliche Minnesänger darzustellen. Die Sänger werden regelrecht in Szene gesetzt und interagieren mit anderen Figuren. Immer wieder tauchen Gegenstände des musischen, aber auch des höfischen Lebens in den Autorenbildern auf. Die Bilder ähneln sich zwar, greifen ähnliche Situationen auf und enthalten wiederkehrende Elemente, doch durch spielerische Variation setzt sich jedes einzelne von ihnen ab.


Die Bilder des Codex Manesse sind mehr als reine Zier einer Prachthandschrift. Die Lieder des Codex sind nach Autoren sortiert. Diese wiederum sind gemäss ihrem sozialen Stand in der mittelalterlichen Gesellschaft geordnet, dem sogenannten Heerschild. Eröffnet wird die Manessische Liederhandschrift von Kaiser Heinrich VI. Ihm folgen Könige, Grafen bis hin zu einfachen Rittern und nichtadligen Sängern. Am Anfang jedes Œuvres steht jeweils das ganzseitige Bild zum Autor. Dadurch wird der Codex auch visuell gegliedert. Einerseits erhöht die Farbenpracht und der Aufwand hinter den Bildern den Repräsentationswert des Codex Manesse, denn eines liegt auf der Hand:
Ein solches Werk hält man, wann immer möglich, jemanden unter die Nase, um dann vor Stolz anzuschwellen.
Andererseits wird durch das Porträt der Autor selbst vergegenwärtigt. Wir müssen uns bewusst sein, dass im Mittelalter der Minnesang in erster Linie eine Liveperformance war. Der Künstler war selbst anwesend, trat auf und interagierte mit seinem Publikum. Oft wird der Autor genau in solchen Momenten des Auftretens oder in Szenen aus seinen Liedern, die er performt hätte, dargestellt. Roland Barthes erklärte den Autor für tot und wie Walther von der Vogelweide sind viele im Codex Manesse enthaltenen Autoren bereits verstorben, als der Codex erschaffen wurde. Die Bilder der Manessischen Liederhandschrift holen diese Toten jedoch aus ihren Gräbern und stilisieren sie zu idealen Minnesängern, sie werden als diejenigen dargestellt, von denen sie selbst singen. Und sie werden vor allem eines: Für die Rezipient*innen fassbar.
Zuvor sprach ich davon, dass gewisse Elemente in den Bildern immer wieder aufgegriffen und variiert werden. Eines dieser Elemente ist der rechteckige Bildrahmen. Dieser ist oft in den Farben blau, rot und gold, später auch grün gehalten. Manchmal besteht er aus simplen, geraden Linien, ein anderes Mal sind es in den Rahmen gesetzte geometrische Muster oder auch pflanzliches Rankenwerk.

Innerhalb des Rahmens wird die eigentliche Szene abgebildet. Den Hintergrund liessen die Maler blank, sprich die leeren Flächen wurden nicht mit Farbe oder Gold gefüllt, wie es in der zeitgenössischen Buch- und Tafelmalerei oft der Fall war. Viele Figuren stehen auf dem unteren Rand des Rahmens und sind miteinander oder mit anderen Bildelementen in Verbindung, was ihnen scherenschnittartige Züge verleiht. Ich persönlich empfand das als ziemlich nützlich, weil es die digitale Bearbeitung der Bilder erleichterte. Von solchen Tricks konnten die Hersteller höchstens träumen.
Auffällig sind auch die Wappen und Helme, die sich meist im oberen Drittel des Bildes befinden. Gelegentlich wird der Wappenbereich durch einen Querbalken vom Rest des Bildes abgegrenzt. Subtil geschah dies beim Bild zu Dietmar von Aist. Dort wird der Querbalken als grüne Stange in das Bildgeschehen integriert. Daran hängen Gürtel, Taschen und Spiegel – Dinge, die der Minnesänger seiner Dame schmackhaft machen möchte.

Auch an anderer Stelle sind die Wappen und Helme ins Bildgeschehen integriert. Bei Turnier- und Kampfszenen oder wenn uns der Dichter in Rüstung begegnet, sind Helm und Wappen meistens Bestandteil der Rüstung. Ihre Pferde tragen oft eine Schabracke, die das Motiv und die Farben des Wappens aufnehmen.
117 der im Codex enthaltenen Minnesänger bekommen ein eigenes Wappen sowie einen Helm mit Zimier (das ist der Schmuck auf dem Helm). Es ist anzunehmen, dass alle Autoren ein eigenes Wappen erhalten sollten, obwohl ein Grossteil der porträtierten Autoren zu ihren Lebzeiten über gar kein Wappen verfügte. Nur etwa ein Drittel der Wappen des Codex Manesse können daher als historisch korrekt gelten, wobei offenbleibt, ob die Autoren das ihnen attribuierte Wappen tatsächlich getragen haben. Für die Maler und Ersteller des Codex Manesse war diese Frage unwichtig. Weder bei der Darstellung der Autoren noch bei den Wappen ging es ihnen um biographische Korrektheit, im Zentrum stand der Repräsentationswert. Durch die Wappen werden die Autoren zu Personen von Stand, sie werden erhoben und ihre Bedeutsamkeit wird betont. Dadurch wird gleichzeitig auch die Bedeutsamkeit des Codex Manesse, in dem ja die Lieder dieser herausragenden Autoren gesammelt wurden, gesteigert.

Ohne Wappen wäre der Autor ein Niemand, und über solche macht man keine Prachthandschrift.
Doch nicht nur das Wappen hebt den sozialen Status des Autors hervor. Über den Bildern gibt es jeweils eine Überschrift, die den Namen und Titel des Sängers enthält. Eingangs habe ich mich gefragt, weshalb Walther von der Vogelweide ein Schwert hat. Im Kontext der Repräsentation leuchtet dies durchaus ein. Noch heute ist das Schwert das Accessoire, das uns in den Sinn kommt, wenn wir an Ritter denken. Tatsächlich ist das Schwert die mittelalterliche Standeswaffe par excellence. In den Bildern kann es unterschiedlich integriert sein. Bei Walther lehnt es an den Dichterhügel an, doch auch am Gürtel des Autors oder an einem Haken am Rahmen kann es aufgehängt sein.

Eine andere Möglichkeit, den Autor als ein Mann von Stand darzustellen, besteht darin, ihn Tätigkeiten ausüben zu lassen, die typisch höfisch waren: jagen, an Turnieren teilnehmen, beim Brettspiel oder im Gespräch mit vornehmen Damen.








Viele Bildelemente dienen also dazu, den herausragenden Rang und die Bedeutsamkeit des Autors hervorzuheben. Ich möchte nun den Blick weg von einzelnen Elementen auf das richten, was ich bis anhin als Szene bezeichnet habe. Mit der Szene ist das jeweilige Geschehen im Bild gemeint. Auch hier greifen die Maler immer wieder bestimmte Typen auf und spielen variantenreich. Vier Szenentypen lassen sich unterscheiden.
1. Der Autor sitzt nachdenklich da
Diese Haltung begegnete uns schon bei Walther von der Vogelweide. Auch Heinrich von Veldeke wird sitzend und sinnierend porträtiert. Typisch für diesen Archetyp ist, dass der Dichter grundsätzlich die einzige Person im Bild ist und seinen Ellbogen auf das Knie abstützt. Wie Walther befindet auch er sich in freier Natur, dem Hort der Inspiration. Doch um Heinrich versammeln sich Vögel und Blumen spriessen aus dem Boden. Ein Eichhörnchen hat die Schulter unseres Denkers erklommen. Flüstert es ihm die Worte, nach denen er sucht, zu? Im Vergleich zu Walther zeigt sich deutlich, wie abwechslungsreich die Maler ihre Bilder gestalten.
2. Der Autor im Gespräch mit einer Dame

Was wäre der Minnesänger ohne die Dame, deren Herz er zu erobern versucht! Wie sich der Minnesänger um seine Angebetete bemüht und um deren Gunst wirbt, steht im Zentrum dieser Bilder. Der Autor schlüpft in die Rolle des Minnesängers und interagiert mit der Dame. Dabei können gängige Situationen wie Gespräche und Tanz oder das Vortragen eines Lieds dargestellten werden. Teilweise greifen die Maler wie bei Hadlaub auch Szenen aus den Liedern der Autoren auf und lassen diese nun die Textstellen nachspielen .
3. Der Autor mit einem Boten

Nicht immer ist es dem Minnesänger möglich, seiner Auserkorenen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Dann setzt der findige Liebende Boten ein, damit dieser die Liebesbotschaft überbringt. Die Boten sind gut an ihrer kleineren Statur zu erkennen. Wie Hartwig von Raute sitzen die Autoren meist auf einer verzierten Kastenbank. Nur von Raute schlägt seinen Boten ins Gesicht. Die Ohrfeige darf hier wohl als eine Art mittelalterliche «Gedächtnisstütze» für den jungen Boten verstanden werden .

4. Der Autor in Rüstung
Man kann einen Autor kaum stärker als Ritter inszenieren, als wenn man ihn wie bei Hartmann von Aue hoch zu Ross in eine Ritterrüstung steckt. Wir finden im Codex Manesse mehrere Varianten dieses Reiterstandbildes. Wappen und Helm gehören zur Ausrüstung des Autors. Auch die Turnier- und Schlachtszenen können diesem Archetyp zugerechnet werden .
Festzuhalten ist, dass die Bilder der Manessischen Liederhandschrift ein Produkt einer engen Zusammenarbeit mehrerer Generationen von Malern sind. Es werden vier Maler unterschieden, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten am Codex Manesse arbeiteten. Hinter diesen Malern steckt jedoch nicht ein einzelner Künstler, sondern mehrere Personen, denn Maler hatten für gewöhnlich Assistenten. Oft zeichnete der Malermeister mit der Feder das Bild vor und liess die Assistenten das Bild nach seinen Anweisungen kolorieren.
Die vier Malergenerationen werden in den Grundstockmaler und die Nachtragsmaler unterschieden. Aus dem Atelier des Grundstockmalers stammen 110 Bilder. Ihr Stil zeichnet sie aus. Der rotgoldblaue Rahmen mit seinen geometrischen Mustern ist typisch für den Grundstockmaler. Zudem befinden sich seine Bilder auf nichtlinierten Seiten. Die Linien wurden als Orientierungshilfe für Textseiten angelegt. Befindet sich ein Autorenbild somit auf einer linierten Seite, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass dieser Autor nachträglich zum Codex hinzugefügt wurde. In der Fachliteratur wird der Grundstockmaler für seine Farbsetzung und Variantenreichtum gelobt. Hervorgehoben wird seine Realisierung des hochgotischen Schönheitsideals: Lockenumrahmte Gesichter, schlanke S-förmig geschwungene Körperhaltungen und Gewänder, die mit reicher Faltenbildung zu Boden gleiten.
Unter den Nachtragsmalern änderte sich die Bildkomposition. Die Figuren wurden zahlreicher und die Handlung in den Szenen intensiviert sich. Die Bilder sind blasser, weil nun häufiger Mischfarben verwendet wurden. Das Lob für die Nachtragsmalern fällt spärlicher aus. Der zweite Maler könnte dem Grundstockmaler leider nicht das Wasser reichen, meinte meine Professorin. Als kleinen Akt der Rebellion und Solidarität mit einem der Nachtragsmaler füge ich hier das Bild ein, das sehr lange als Platzhalter für diese Story hinhielt.

Auf einer Bank wie auf einem Thron sitzend begegnet uns Graf Rudolf von Neuenburg. Wie Walther und Heinrich ist auch dieser Dichter in seine Gedanken versunken. Aus seiner linken Hand entspringt ein flatternder Papierbogen, ein sogenanntes Schriftband. Ihm kommt eine bedeutsame Rolle in den Bildern zu.
Wenn es nicht im unfertigen Zustand der Vorzeichnung belassen wurde, ist das Schriftband stets an seiner roten Umrandung zu erkennen. Zudem fällt sofort auf: Das Schriftband ist trotz seines Namens leer. Seit der Antike ist dieses leere Schriftband ein Attribut von Gelehrten, Philosophen und Dichtern. In der christlichen Kunst des Mittelalters dient es vorerst als Symbol für die Heiligen Worte, die dem Dichter von Gott eingegeben wurden, später steht es allgemein für die Rede.
Im Codex Manesse hält der Dichter das Schriftband mit einer Hand fest. Es ist nicht zwingend als tatsächlicher Gegenstand zu verstehen, sondern zeigt symbolisch, dass die Figur, die es festhält, der Urheber der Worte und somit der Autor ist. Gleichzeitig steht es für die Worte des Dichters selbst, also für dessen Minnelyrik.
Doch nicht nur bei unseren zutiefst philosophischen Denkern finden sich im Codex Manesse leere Schriftbänder. Herr Milon von Sevelingen ist in ein Gespräch mit einer Dame vertieft und zeigt dies durch das leere Schriftband in seiner Linken, das zwischen ihm und der Dame steht. Sein Blick ist auf die Dame gerichtet. Sie erwidert seinen Blick und zeigt ebenfalls mit einer Hand auf das Schriftband. Die beiden führen also ein Gespräch!


Das Schriftband verweist somit - anders als es sein Name vermuten lässt - durch die Redegesten der Hände auf die Mündlichkeit der Kommunikation. Anders bei Graf Otto von Botenlauben: Auch er sitzt auf einem Thron, würdevoll mit gepflegtem Bart und langer Haartracht. Das Schriftband in seiner Rechten dehnt sich schwungvoll über die gesamte Bildmitte aus. Unserem Grafen gegenüber steht leicht geduckt ein kleiner Mann. Seine Grösse zeichnet ihn als Bediensteten und Untergebenen aus. Er ergreift das Schriftband, aber spezielle Handgesten finden wir hier nicht. Es findet also kein Gespräch statt. Stattdessen hat hier der Maler der Miniatur, wohl inspiriert vom Namen des Minnesängers (Bottenloube), eine für den Codex Manesse typische Botenszene kreiert. Hier wird das Schriftband nun zweideutig. Es steht für die Rede und die Dichtung des Minnesängers, die nun der Bote einer Dame überbringt und materialisiert sich gleichzeitig als Liebesbrief .
Noch stärker zu einem materiellen Objekt wird das Schriftband im Autorenbild des Herrn Wilhelm von Heinzenburg. Wie Otto von Bottenlauben sitzt auch er auf seinem Thron. Hinter ihm auf der Stange pickt sein Jagdfalke an der Beute. Auch Wilhelm scheint auf Beute aus zu sein. Das Ziel seines Begehrens ist jedoch nicht die Dame, die vor ihm kniet. Sie ist seiner nicht würdig, sondern eher eine Kupplerin, die sich, wie oft in zeitgenössischen Schwänken, für das Liebesspiel des Liebenden einspannen lässt. Der Minnesänger übergibt ihr die Schriftrolle, mit einer goldenen Tasche noch geschmückt: ein Geschenk für die Geliebte. Geschenk und Brief sollen das Werben unseres Sängers voranbringen und die Angepriesene geneigt stimmen. Interessant ist aber auch, welches Treiben durch die Ziertasche halb verdeckt wird. Der Dichter legt der Kupplerin mehrere Goldmünzen in die Hand: Die Bezahlung für das Arrangieren eines Stelldicheins mit der Geliebten .
Steht dem Minnesänger kein Dienstbote und auch keine Kupplerin zur Seite, kann er natürlich das Schriftband in Form eines Briefes auch selbst überbringen. Eine der wohl kreativsten Methoden hierfür findet sich bei Herr Rubin. Auf einem Grashügel kniend schiesst er mit einer goldenen Armbrust seine Liebesbotschaft in das Turmfenster seiner Angebeteten. Diese zeigt mit ihren Handgesten an, dass sie versuchen will, den Brief zu fangen. Hoffen wir nur, dass die Aktion nicht ins Auge geht!



Es ist offensichtlich, dass Autorenbilder nicht einfach ein Relikt des Mittelalters sind. Auch zeitgenössischen Autorinnen und Autoren verlassen sich auf Bilder, und zwar mehr denn je. Beinahe jeder und jede Autor*in hat eine Website mit Pressebildern. Ein Zeitschrifteninterview ohne Bild lässt sich nur schwer finden. Wie im Mittelalter sind diese Bilder ein wichtiges Mittel zur Repräsentation der Autor*innen. Jedoch geht es bei den heutigen Pressebildern weniger um Stolz oder Wertsteigerung eines Werkes. Wer ein klares Image vermittelt, spricht gezielter eine bestimmte Klientel an. Also Marketing statt Adelsstatus?
Die Maler des Codex Manesse kannten die Autoren nicht, die sie auf Pergament bannten, und die Autoren hatten wohl kaum ein Wort mitzureden. «Heutige Autor*innen nehmen Einfluss und gestalten ihr Image mit», dachte ich mir und machte mich auf die Suche nach jemanden, der wie die Minnesänger selbst auftritt und vor Publikum performt. Patti Basler – Bühnenpoetin, Kabarettistin und Autorin erklärte mir, weshalb sie auf Fotos nicht lächelt.
Auf die Frage, wer über den Bildinhalt entscheidet, hatte Patti eine klare Antwort: Wer zahlt, befiehlt. Doch was, wenn nicht die Künstlerin selbst das Geld für das Bild in die Hand nimmt?
Als ich mich für das Interview mit Patti vorbereitete, zog mich ein Bild auf ihrer Webseite in seinen Bann. Patti, den Blick auf den Betrachter gerichtet, hält ein Mikrophon in der Hand. Unweigerlich erinnert dieses mich an die Schriftbänder des Codex Manesse, ist es doch ein Symbol für Mündlichkeit. Zudem ist es das Bild von Patti Basler, dem ich wohl häufigsten begegnet bin. So wollte ich selbstverständlich die Geschichte dahinter erfahren und lernte Unerwartetes über Mikrophone, Zärtlichkeit und Interpretationsspielräume.

Wie Patti bereits erwähnte, ist es nicht immer die Künstlerin, die ein Bild in Auftrag gibt. Wie sie dennoch Einfluss auf das Pressebild nimmt, Homestorys über sich schreiben lässt, obwohl sie keine Homestorys im eigentlichen Sinn machen lässt und dabei zur Mama Helvetia wird, erklärte sie mir anhand ihres Fotoshootings in Altdorf .

Nach dem Interview mit Patti lasse ich meine Gedanken schweifen. Ihr dürft euch jetzt gerne vorstellen, wie ich Walther von der Vogelweide nachahme, mit überkreuzten Beinen und aufgestütztem Ellbogen dasitze, mein Kinn in meine Hand schmiege und sinnierend in die Ferne starre. Eigentlich unterscheiden sich heutige Pressebilder nicht allzu sehr von den Autorenbildern des Codex Manesse. In beiden Fällen geht es um Repräsentation. Ein bestimmtes Image soll vermittelt werden, sei dies nun dasjenige des idealen Minnesängers oder der Mama Helvetia, die das Lächeln verweigert.
Aus gemalten Bildern werden Photographien, aus Spruchbändern Mikrophone und selbst Zärtlichkeit spielt noch eine unerwartete Rolle. Und eine Frage drängt sich mir auf. Wie würde ich mich im Codex Manesse malen lassen? Im Gespräch mit einer edlen Dame, mein Schwert lässig an den Bildrahmen gelehnt? Jedenfalls nicht in dieser ziemlich unbequemen Haltung. Mein Bein ist nämlich eingeschlafen .
Danksagung
Mein Dank geht an Patti Basler, die sich trotz Quarantänezuständen für ein Interview bereit erklärte und an meine Kolleg*innen Claudio und Annika, die mit Humor und kritischen Auge mir ihren Rat zur Verfügung stellten. Insbesondere möchte ich mich bei Prof. Dr. Hildegard Keller bedanken, die mir mit viel Geduld zur Seite stand und half die Worte zu finden.
Bilder
Abbildungen des Codex Manesse: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848. https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848
Patti Basler mit Mikro: www.visualmoment.ch | Tibor Nad
Vor dem Telldenkmal: www.geriborn.ch | Geri Born
Literatur
Bleuler, Anna Kathrin: Der Codex Manesse. Geschichte, Bilder, Lieder, München 2018.
Voetz, Lothar: Der Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters, Darmstadt 2015.
Walther, Ingo F.: die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift, Frankfurt a.M 1988.