Sperma

Von der Frühgeschichte zur Moderne

Von Oscar Friesen

Hasensperma (Bild 1-4) und Hundesperma (Bild 5-8). Gezeichnet von Antonie van Leeuwenhoek im Jahr 1677.

Hasensperma (Bild 1-4) und Hundesperma (Bild 5-8). Gezeichnet von Antonie van Leeuwenhoek im Jahr 1677.

Sperma, so hört man aktuell in den Medien, sei von sinkender Qualität und bedrohe so den Kinderwunsch vieler Paare. Diese Debatte regt meine Neugier an und so habe ich mich in den letzten Wochen von der Frühgeschichte bis zur heutigen Spermaforschung durchgekämpft. Mein Ziel: Ich will wissen, wie sich das Verständnis über die Entstehung eines Kindes im Laufe der Geschichte gewandelt hat. Welchen Anteil haben die einzelnen Elternteile bei der Zeugung? Was bedeutet die aktuelle Schwächung für die kleinen Schwimmer, die sich auf dem Weg zur Eizelle gegen mehrere Millionen von Spermien durchsetzen müssen? Schwindet die Gesamtzahl der Spermien? Und wie wird heute über dieses Thema diskutiert? Tauchen wir in diese wundersame Welt ein.

Rindersperma (430-fach vergrössert).

Rindersperma (430-fach vergrössert).

Wissen um Fortpflanzung

Wann und unter welchen Lebensumständen gelangten Menschen erstmals zu Wissen, wie ein Kind entsteht? Die Schweizer Psychoanalytikerin und Philosophin Carola Meier-Seethaler blickt in ihrer dissidenten Kulturtheorie weit zurück in schriftlose Kulturen. Sie beschreibt, wie es in der späten Jungsteinzeit einen Umschlag von matrizentrischen, herrschaftsfreien Kulturen zu patriarchaler Ordnung gab. Nachdem neues Wissen über den Beitrag des Mannes zur Fortpflanzung vorhanden war, änderten sich auch die Denkmuster über die Rollen von Frau und Mann.

Damals wurden Sammlerinnen zu Bäuerinnen. Sie begannen Haustiere wie Ziege und Schaf im Aussenbereich ihrer Wohnstätten zu halten, später kamen Grosstiere dazu, gezähmte Wildrinder. Die einst herumziehenden Jäger liessen sich als Hirten nieder. Die neue Sesshaftigkeit brachte Erkenntnisse. Die Menschen konnten an ihren Haustieren beobachten, wie sich Tiere fortpflanzten. Dies sollte Folgen auch für sie selbst haben, nach heutigen archäologischen Erkenntnissen irgendwann zwischen 11000 bis 4000 v. Chr.  Die Gewissheit, dass der männliche Beitrag sehr wichtig war für die Fruchtbarkeit eines Nutztieres gab den Männern auch die Sicherheit, dass ihr eigener Beitrag zur Fortpflanzung wichtig sein musste. Bis anhin gingen die Menschen davon aus, dass es neben dem Sexualakt noch mehr brauchte, damit eine Frau schwanger wurde. Noch im Paläolithikum war den Menschen nicht klar gewesen, dass ein einziger Sexualakt genügt, damit eine Frau schwanger werden konnte. Dass ein Kind also nicht nur matrilinear entstand, sondern durch die Vereinigung von Mutter und Vater.

Das Bewusstsein von der eigenen Zeugungskraft stärkte das männliche Selbstbewusstsein gegenüber der sakralen Aura weiblicher Lebensgabe und ergänzte die bisher als unilinear und matrilinear verstandene Abstammungslinie mit dem Wissen um die bilineare Abkunft der Nachkommen. Mythologisch drückt sich das gestärkte Selbstbewusstsein des Mannes darin aus, dass neben die Verehrung der Großen Muttergöttin ein männlicher Gott tritt, meist in symbolischer Gestalt als Stier oder auch als Widder.

Carola Meier-Seethaler

1927-2022. Psychologin und Philosophin. Zahlreiche soziokulturelle Forschungsbeiträge zur Frühgeschichte, Archäologie und Ethnologie. Im Zentrum steht die Kritik an patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft und Denkmuster, die zur Diskriminierung des Weiblichen führen.

Antikes Wissen

Unsere Reise führt nun ins antike Griechenland. Drei Fragen beschäftigten Mediziner und Philosophen seit den frühesten Anfängen der Zeugungsphysiologie: die Frage nach der Zeugungsleistung beider Geschlechter, die Frage nach der Herkunft der Samen und die Frage nach der Geschlechterherkunft des Neugeborenen.

In der Antike gab zwei Theorien zur Zeugungsleistung. Die ältere der beiden Theorien, die Zweisamenlehre, stammt von Hippokrates von Kos (460 v. Chr. – 360 v. Chr.). Diese besagt, dass sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlecht einen (weitgehend) gleichwertigen Samen (lat. semen; aussäen) zur Zeugung beisteuern. Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v.Chr.) ging von einer Einsamenlehre aus. Der männliche Samen gebe die Form und den Impuls, während die Frau lediglich die Materie dazu liefere, aus welcher der neue Mensch geformt werde: nämlich das nicht ausgeschiedene Menstruationsblut. Dieses sei eine Vorstufe des Samens.

Doch woher stammt eigentlich der Samen? Eine der ältesten Antworten gab die enkephalo-myelogene Samenlehre. Sie verortete die Herkunft des Samens im Gehirn und Rückenmark. Hippokrates dagegen vertrat mit seiner Pangenesislehre die Idee, dass sich der Samen aus Absonderungen aller Körperteile zusammensetze. Jedes Organ trage ein wenig dazu bei. Einflussreicher war die hämatogene Samenlehre, die durch Aristoteles ausgearbeitet wurde. Die Theorie besagt, dass der Samen aus Blut entstand, genauer gesagt, dass er durch die Hitze des Körpers aus dem Blut herausgekocht werde.

Die Entstehung des Geschlechtes hat im Laufe der Geschichte für rege Diskussionen gesorgt. Nach der hippokratischen Zweisamenlehre bestimmt das Überwiegen des Samens eines Geschlechtspartners das Geschlecht des Nachkommens. Eine alternative Theorie bezieht sich auf die Temperatur im Uterus: Ein warmer Uterus begünstige die Entwicklung eines Jungen, während ein kühlerer Uterus zu einem Mädchen führe. Aristoteles nahm an, dass für die Vererbung nur der männliche Samen bedeutend sei. Dennoch brauchte er auch eine Erklärung dafür, warum nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen geboren werden. Er führte dies darauf zurück, dass die im Menstruationsblut vorhandene Materie den Bewegungen und der Kraft des Samens entgegenwirke. Je stärker der Samen also ausgebremst werde, desto weiter entferne sich das Neugeborene in Aussehen und Verhalten von einem Jungen. Eine völlige Ausbremsung führe zu einem Mädchen. Entscheidend seien Wärme, Kälte, Lebensalter, Klima und Ernährung.

Ich frage mich, wie die Denker solche Zusammenhänge entwickelt haben. Dafür wende ich mich an Martina Meier, Biologin und Tochter von Carola Meier-Seethaler, und frage sie, welche Bedeutung sie in den antiken Fortpflanzungstheorien sieht. Sie spricht den Theorien eine Bedeutung für den Wissenszuwachs zu, betont aber auch die ideologischen Implikationen.

In der abendländischen Kultur wurde alles Empirische und Konkrete abgewertet. Kein Philosoph hat je zugehört, was TierzüchterInnen und «einfache» MitbürgerInnen an ihren Körpern beschrieben haben. Von Anfang an war alles, was in der abendländischen Philosophie über die Samenflüssigkeit, über den Beitrag von Mann und Frau zur Fortpflanzung gesagt und geschrieben wurde, reine Ideologie, durch keine Fakten gestützt.

Martina Meier

Geboren 1961. Biologin und Wissenschaftstheoretikerin. Forschung und gesellschaftspolitisches Engagement in der Feministischen Technik- und Naturwissenschaftskritik, Ethik in der Wissenschaft, Verhaltensforschung, Evolutionsbiologie und Neurobiologie.

Von Galen ins Mittelalter

Die drei Themenkomplexe der Zeugungsphysiologie bestimmten massgebend die Samenlehre des griechischen Arztes Galenos von Pergamon (dt. Galen), der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte. Er bildet die nächste Station unserer Zeitreise. Als Universalgelehrter beeinflusste Galen bis ins 16. Jahrhundert das medizinische Verständnis des menschlichen Körpers. Seine Überlegungen zur Fortpflanzung beruhten auf den Lehren von Aristoteles und Hippokrates, die er in seinem Werk De semine weiterentwickelte.

Galenos von Pergamon. Litografie vom franzöischen Künstler Pierre Roche Vigneron. Ca. 1865.

Galenos von Pergamon. Litografie vom franzöischen Künstler Pierre Roche Vigneron. Ca. 1865.

Galen hatte durch anatomische Befunde geltend gemacht, dass der weibliche ebenso wie der männliche Körper Samen produziere. Er folgte somit der hippokratischen Zweisamenlehre. Der weibliche Samen sei das dem männlichen Samen entsprechende Ausscheidungsprodukt und stamme von den Eierstöcken. Jedoch war er von deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschieden in der reproduktiven Leistungsfähigkeit überzeugt. In dieser Hinsicht stimmte seine Ansicht mit der aristotelischen Geschlechterauffassung überein. Mit anderen Worten: Galen bestätigt Aristoteles’ Annahme geschlechtsspezifischer Unterschiede in der reproduktiven Leistungsfähigkeit, obwohl er gleichzeitig darauf hinweist, dass Frauen dennoch eigenen Samen produzieren.

Galen stimmt Hippokrates und seiner Pangenesislehre bezüglich der Herkunft des Samens zu.

Seine Theorien zur Vererbung und Geschlechterherkunft basieren auf Gedanken von Durchsetzung und Konkurrenz. Er argumentierte, dass sowohl der männliche Samen als auch das Menstruationsblut Bewegung und Form bilden und für die Fortpflanzung verantwortlich sind. Diese Argumentation folgte jedoch immer noch den Einschränkungen der aristotelischen Grundidee von Geschlechterdualismus. Dass der weibliche Samen hierarchisch untergeordnet war, konnte erst in der Neuzeit verworfen werden. Die auch biblisch motiviert Idee von der Herrschaft des Mannes über die Frau prägt auch die deutsche Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098-1179), doch sie schrieb nicht nur als erste Frau über Sexualität, sondern auch eigenwillig im Kontext ihres ersten Visionswerks Scivias (dt. Wisse die Wege) und mit starker Bildsprache.

 Der Mann ist nämlich seinem Wesen nach Sämann, die Frau aber ist die, die den Samen empfängt. Daher bleibt auch die Frau unter der Herrschaft des Mannes, denn wie sich die Härte des Steines zur Weichheit der Erde verhält, so verhält sich auch die Kraft des Mannes zur Hingabe der Frau.

Das Titelbild von Scivias. Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration, schreibt diese auf einer Wachstafel nieder und gibt diese an einen Mönch weiter.

Das Titelbild von Scivias. Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration, schreibt diese auf einer Wachstafel nieder und gibt diese an einen Mönch weiter.

An anderer Stelle erklärt sie, dass dickflüssiger männlicher Samen bei der Zeugung zu einem Jungen führt, minderwertiger aber zu einem Mädchen. Gleichwohl ist das Sexualverhalten der Frau dem entstehenden Lebewesen zuträglicher.

Die Liebe des Mannes ist im Brand seiner Leidenschaft wie das Feuer brennender Berge, das kaum einzudämmen ist, die Liebe der Frau gleicht dagegen der Flamme in einem Holzstoss, die man leicht wieder auslöscht. Ihre Liebe ist dem Manne gegenüber wie die ausgeglichene Wärme der Sonnenglut, die fruchtbringend wirkt im Vergleich zu jener ungeheuerlich entfachten Flamme der brennenden Wälder. Deshalb vermag die Frau auf eine angenehmere Weise ihre Frucht auszutragen. […] Die Frau aber verhält sich dem Mann gegenüber mehr wie eine Getreidetenne, die von wuchtigen Schlägen erschüttert wird und die, so wie die Körner in ihr zerschlagen werden, sich tüchtig dabei erhitzt.

Fast könnte ich mir vorstellen, dass der Drehbuchautor von All you wanted to know about sex (1972, Regie: Woody Allen) Hildegard von Bingen gelesen hat.

Jakob Rufs Embryologie

Jakob Ruf. Trostbüchlein, 1543.

Jakob Ruf. Trostbüchlein, 1543.

Zürich im 16. Jahrhundert ist die nächste Station unserer Reise. Jakob Ruf (1505-1558) war ein Schweizer Stadtchirurg, Geburtshilfepionier und Theaterregisseur. Lange Zeit lebte Ruf am Neumarkt in den Häusern «Stelzlein» und «Damhirschli».

Jakob Ruf verfasste viele deutsche und lateinische Werke, unter anderem zur Augenheilkunde oder über Tumore. Sein wohl berühmtestes Buch war das 1543 veröffentliche Trostbüchlein, ein Lehrbuch für die städtischen Hebammen, das auch Anatomie, Zeugung, Embryonalentwicklung und Unfruchtbarkeit thematisiert.

Auch Jakob Rufs Fachwissen basiert auf Hippokrates, Aristoteles und Galen. Wie aber auch schon Galen, distanziert sich Jakob Ruf von klassischen Autoritäten, beispielswiese so auch in seiner Samenlehre. Er weicht von der Ansicht ab, dass der männliche Samen das edelste Körperprodukt sei und stellt es auf dieselbe Stufe wie den weiblichen Samen, den er ihm Menstrualblut sieht. Ruf folgt also dem hippokratischen Konzept von Mischung und Gleichwertigkeit der Samen und stellt sich somit gegen Aristoteles’ Theorie, die den Beitrag der Frau auf die Bereitstellung der Materie beschränkt. Sobald die Gebärmutter, schreibt Ruf, den natürlichen Samen des Mannes in sich aufnehme, vermische sich der weibliche Samen mit dem männlichen. Hier im Original von 1554:

Wie bald aber die baͤrmůter oder das geburtglid den natürlichen somen deß manns vfgehebt vnd empfangen hat / wirt der wybliche somen dem maͤnnlichen vermist.

Ruf nutzt auch eine ganz besondere Chance im Trostbüchlein. Er wirft nämlich eine Frage auf, die längst nicht nur Experten angeht: Kann der Teufel Kinder Zeugen. Gerade Hebammen, Schwangere und ganz allgemein Laien dürfte Rufs Stellungnahme besonders interessieren, da sie mit Dämonologie auch im Alltag konfrontiert waren. Um es kurz zu machen: Nein, sagt Ruf, der Teufel sei nicht zeugungsfähig. Wer es länger möchte, lese Rufs Argumentation im Trostbüchlein nach.

Jakob Ruf: Trostbüchlein, 1543. Darstellung eines befruchteten Eis.

Jakob Ruf: Trostbüchlein, 1543. Darstellung eines befruchteten Eis.

Antoni van Leeuwenhoek

Unterschrift Antoni van Leeuwenhoek

Unterschrift Antoni van Leeuwenhoek

Unsere Expedition führt uns weiter in die Niederlande zu Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723). Der Naturforscher entwickelte optische Instrumente, die er ab Mitte der 1670er Jahren selbst einsetzte. Mit selbstgebauten Mikroskopen untersichte er zunächst Bienenstachel, Läuse oder Seewasser, bevor er sich dem Sperma zuwandte.

Portrait von Antoni von Leeuwenhoek. Ca. 1680.

Portrait von Antoni von Leeuwenhoek. Ca. 1680.

Es war jedoch nicht er, der die «Samentierchen» (Spermatozoon) als erster entdeckte – das war der junge Medizinstudent Johan Ham. Doch Leeuwenhoek führt Hams Untersuchungen weiter und beschrieb als ersten Wissenschaftler die Spermien systematisch (lat. sperma; Abkömmling). Erst nach Leeuwenhoeks bahnbrechender Arbeit wurde die Bezeichnung Samen durch Sperma sukzessive abgelöst. Da Leeuwenhoek befürchtete, es sei ein Tabu, über Geschlechtsverkehr und Spermien zu schreiben, zögerte er, seine Entdeckung bekannt zu machen. Erst im Jahr 1677 wandte er sich an die Royal Society of London – allerdings mit grosser Unsicherheit.

Ein Kupferstich von zwei Spermien eines Hundes. Aus Antoni van Leeuwenhoeks Ontledingen en Ontdekkingen von 1696.

Ein Kupferstich von zwei Spermien eines Hundes. Aus Antoni van Leeuwenhoeks Ontledingen en Ontdekkingen von 1696.

 Und wenn Eure Lordschaft der Ansicht sein sollte, dass diese Bemerkungen die Gelehrten empören oder skandalisieren könnten, bitte ich Eure Lordschaft aufrichtig, sie als privat zu betrachten und sie zu veröffentlichen oder zu vernichten, wie Eure Lordschaft es für richtig hält.

Deren Präsident William Brouncker beschloss Leeuwenhoeks Erkenntnisse 1678 in der Zeitschrift Philosophical Transactions zu veröffentlichen – das brandneue Gebiet der Spermienbiologie war geboren. Leeuwenhoek hatte die Relevanz seiner Entdeckung noch nicht erkannt. Erst zweihundert Jahre später verstand man, dass die Spermien Träger genetischer Informationen sind.

Kupferstich eines Spermiums im Werk Opera Omnia von Antoni van Leeuwenhoek aus dem Jahr 1719.

Kupferstich eines Spermiums im Werk Opera Omnia von Antoni van Leeuwenhoek aus dem Jahr 1719.

Woher stammt der Mensch nun?

Darstellung von Spermien. William Cheselden, Anatomy of the Human Body, 1713.

Darstellung von Spermien. William Cheselden, Anatomy of the Human Body, 1713.

Leeuwenhoeks Entdeckung eröffnete auch eine völlig neue Debatte. In der Forschung standen sich nun die Epigenese und die Präformationslehre gegenüber, die beide die Entstehung von Organismen auf ihre eigene Art erklärten.

Die Epigenese wurde von Caspar Friedrich Wolff (1734–1794) eingeführt. Sie behauptet, dass sich Organismen sukzessive aus ungeformter Materie formen und dass sich die Organe und Strukturen erst während des Wachstums allmählich entfalten. Zudem glaubten Epigenetiker, dass sowohl Männer als auch Frauen Material zur Bildung eines neuen Organismus beisteuerten, auch wenn sie sich noch nicht sicher waren, wer was genau beisteuerte.

Auf der Gegenseite stand die Präformationslehre. Diese Theorie baute, besonders in ihrer extremen Form, auf eine Art Homonuculus. Man nahm an, dass der Körper des Embryos schon vollständig entwickelt im Samen enthalten sei, er müsse nur noch zur Sichtbarkeit heranwachsen. In dieser Vorstellung existierte also ein winziger, vollständig geformter Homunculus im Samen oder Ei, der während der Entwicklung nur vergrössert oder entfaltet werden musste. Verrückt, oder?

Ein winziger Mensch im Inneren eines Spermas. Gezeichnet von Nicolaas Hartsoeker im Jahr 1695.

Ein winziger Mensch im Inneren eines Spermas. Gezeichnet von Nicolaas Hartsoeker im Jahr 1695.

Durchbrüche in der Fortpflanzungsmedizin

YouTube: Human Live Sperms under the Microscope at various magnifications 1600X (Ausschnitt: 00:25-00:42).

YouTube: Human Live Sperms under the Microscope at various magnifications 1600X (Ausschnitt: 00:25-00:42).

Obwohl die Eizelle etwa 30-mal grösser ist als das Spermium, wurde sie viel später entdeckt. Der deutsche Biologe Karl Ernst von Baer (1792–1876) schrieb im Jahr 1827 an die Russische Akademie der Wissenschaften einen Brief mit dem Titel De ovi mammalium et homini genesi (dt. Über die Entstehung der Eizelle von Säugetieren und Menschen). Der Brief enthielt detaillierte Beweise für die Existenz der Eizelle zu Beginn des Entwicklungsprozesses bei Säugetieren: Somit wäre der Beginn des menschlichen Lebens in der Eizelle zu suchen.  

Die Titelseite des 1827 veröffentlichten De ovi mammalium et hominis genesi von Karl Baer. Der Brief wurd in Latein verfasst. 1927 wurde der Text ins Deutsche übersetzt.

Die Titelseite des 1827 veröffentlichten De ovi mammalium et hominis genesi von Karl Baer. Der Brief wurd in Latein verfasst. 1927 wurde der Text ins Deutsche übersetzt.

Im Jahr 1875 beobachtete der deutsche Mediziner Oscar Hertwig (1849–1922), der viele Jahre seines Studiums an der Universität Zürich verbrachte, an Seeigel-Eiern die beiden entscheidenden Elemente der Befruchtung: Das Spermium dringt in die Eizelle ein und die Kerne von Spermium und Eizelle verschmelzen zu einem neuen Kern. Er teilte seine Beobachtungen in seiner Habilitationsschrift Beiträge zur Kenntnis der Bildung und Befruchtung des tierischen Eies. Hertwigs Beobachtung und die Grundsteine der 1865 formulierten Vererbungslehre von Gregor Mendel trugen zum umfassenden Verständnis der Fortpflanzungsmedizin und Genetik bei.

Eine Eizelle und ein Spermium bei dem Beginn der Befruchtung.

Eine Eizelle und ein Spermium bei dem Beginn der Befruchtung.

Spermakrise

Gewebeschnitt von Hoden und Nebenhoden

Gewebeschnitt von Hoden und Nebenhoden

Unsere Zeitreise endet im Hier und Jetzt. Auch heute wird eifrig an den kleinen Schwimmern des Mannes geforscht. Doch eine Verschiebung der Interessen ist deutlich zu sehen. Heute geht es nicht mehr um die Existenz, sondern um die Qualität der Spermien. Was aber macht «gutes Sperma» aus? In erster Linie geht es um die Gesamtzahl: je mehr, desto besser. Doch auch die Grösse und Beweglichkeit sind ausschlaggebend. Spermien sind nicht grösser als 0,06 Millimeter. Ein durchschnittliches Ejakulat enthält etwa 39 Millionen dieser kleinen Schwimmer.

Gemäss Studien des israelischen Arztes Hagai Levine beschleunigt sich der weltweite Rückgang der Spermienqualität im 21. Jahrhundert. Man müsse dringend die Ursachen dieses anhaltenden Rückgangs erforschen und Massnahmen zum Schutz der reproduktiven Gesundheit von Männern entwickeln. Expertinnen und Experten führen die Spermakrise auf Chemikalien von Plastikprodukten, Kosmetikartikeln und Pestiziden, aber auch auf den Lebensstil von Männern zurück. Nicht rauchen, ausgewogene Ernährung, genug Bewegung und ein regelmässiger Samenerguss tragen zur Spermienqualität bei.

War es für Leeuwenhoek noch ein Tabu, über die Spermien zu sprechen, ist es heute für viele betroffene Männer schwierig, über ihre Unfruchtbarkeit zu sprechen. Martina Meier sieht aber eine positive Entwicklung.

Es ist erfreulich zu sehen, dass junge Männer heute offener sind und die Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen, ansprechen. Es wird deutlich, dass der gesellschaftliche Druck nicht nur auf Frauen lastet, sondern auch auf Männern. Trotzdem müssen Paare, die mit Unfruchtbarkeit konfrontiert sind, nach wie vor mit unangemessenen Kommentaren umgehen. In diesem Kontext haben Frauen- und Männerbewegungen wichtige Arbeit geleistet, indem sie dazu beigetragen haben, diese Themen sinnvoll anzugehen. Es ist im Interesse beider Bewegungen, dass eine konstruktive Diskussion gefördert wird und die Forschung in eine positive Richtung gelenkt wird.

Von den ersten Schafzüchtern über antike Denker und frühneuzeitliche Homunculus-Vorstellungen bis hin zur hochtechnisierten Fortpflanzungsmedizin heute hat die Wissensgeschichte zur menschlichen Fortpflanzung eine eindrucksvolle Entwicklung durchlaufen. Wissenschaftliche Durchbrüche und kulturelle Verschiebungen haben zu einem tiefgreifenderen Verständnis der Fortpflanzung geführt. Was wissen wir heute? Das Sperma ist ein winziger Lebensbote, der die Schlüssel zu genetischer Übertragung und Weiterentwicklung birgt. In diesem faszinierenden Mikrokosmos der Reproduktion stellt sich die Frage: Welche weiteren Geheimnisse und Wunder warten noch auf uns? Ich bin gespannt, denn eines habe ich auf dieser Reise gelernt: Die Winzlinge sind noch nicht zu Ende erforscht.

Rindersperma (430-fach vergrössert).

Rindersperma (430-fach vergrössert).

Danksagung

Diese Story wäre nicht möglich gewesen, ohne die Unterstützung, die ich von verschiedenen Personen erhalten habe.

Hildegard Keller als Dozentin und Redakteurin. Sie hat es ermöglicht und uns geholfen, dieses neuen digitale Umfeld kennenzulernen.

Chiara Jehle als meine Tandempartnerin. Sie hat mir zahlreiche, gewinnbringende Tipps für die Story gegeben und meine Texte korrigiert.

Martina Meier als Interviewpartnerin und Hinweisgeberin.

Literaturverzeichnis

von Bingen, Hildegard: Wisse die Wege. Hg. v. Abtei St. Hildegard. Rüdesheim/Eibingen 2010.

Büchi, Sandra: Das Sperma in der Krise. In: SRF, August 2022. URL: https://www.srf.ch/wissen/mensch/maennliche-fruchtbarkeit-das-sperma-in-der-krise (6.11.2023).

Colonna, Federica Turriziani: De ovi mammalium et hominis genesi (1827), by Karl Ernst von Baer. In: Embryo Project Encyclopedia, Februar 2009. URL: https://embryo.asu.edu/pages/de-ovi-mammalium-et-hominis-genesi-1827-karl-ernst-von-baer (6.11.2023).

Fischer-Homberger, Esther: Geschichte der Medizin. Zweite, überarbeitete Auflage. Berlin u.a. 1977 (Heidelberger Taschenbücher 165).

Hagai, Levine et al.: Temporal trends in sperm count: a systematic review and meta-regression analysis of samples collected globally in the 20th and 21st centuries. In: Human Reproduction Update, 29.2 (2023), S. 157-176.

Hertwig, Oscar: Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Wirbelthiere. Zweite Vermehrte und Verbesserte Auflage. Jena 1888.

Howard, Stuart S.: Antoine van Leeuwenhoek and the discovery of sperm. In: Fertil Steril 67.1 (1997), S. 16–7.

Hubert Steinke: Jakob Ruf. In: Historisches Lexikon der Schweiz, November 2010. URL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014609/2010-11-18/ (6.11.2023).

Kollesch, Jutta: Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre. In: ders. (Hg.): Kleine Schriften zur antiken Medizin. Berlin 2019 (Corpus medicorum Graecorum Supplementum 6), S. 163–169.

Ling Shuai et. al: Homozygous Loss of Septin12, but not its Haploinsufficiency, Leads to Male Infertility and Fertilization Failure. In: Frontiers In Cell and Development Biology, 10:850052, April 2022.

Poppick, Laura: The Long, Winding Tale of Sperm Science…and why it’s finally headed in the right direction. In: Smithsonian, Juni 2017. URL: https://www.smithsonianmag.com/science-nature/scientists-finally-unravel-mysteries-sperm-180963578/ (6.11.2023).

Ruf, Jakob: Leben, Werk und Studien. Hg.v. Hildegard Elisabeth Keller. Bd 1. Mit der Arbeit seiner Hände. Zürich 2008.

Ruf, Jakob: Leben, Werk und Studien. Hg.v. Hildegard Elisabeth Keller. Bd 2. Jakob Ruf. Werke bis 1544. Kritische Gesamtausgabe Teil 1. Zürich 2008.

Voss, Heinz-Jürgen: Produktion und Reproduktion des Menschens im Spiegel der Vererbungstheorien. In: Sexuologie. Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft 20 (2013), S. 175-188.

Quellenverzeichnis

Section 1: Hasen- und Hundesperma, online unter Wikipedia.

Section 2: Rindersperma, online unter Wikimedia.

Section 3: Felsenmalerei, online unter Pixabay.

Section 5: Portrait Carola Meier-Seethaler, online unter Carola Meier-Seethaler

Section 6: David von Michealangelo, online unter Pixabay.

Section 7: Akropolis, online unter Unsplash.

Section 8: Büste von Aristoteles, online unter Pixabay

Section 9: Tempel von Apollon, online unter Pixabay

Section 10: Martina Meier, eigene Aufnahme.

Section 11: Ruinen, online unter Unsplash.

Section 12: Bild 1: Kupferstich Galen, online unter Wikipedia; Bild 2: Titelbild Scivias, online unter Wikipedia; Video: Woody Allen "Was passiert bei der Ejakulation eines Mannes?", online unter: <https://www.youtube.com/watch?v=2k5lJrPB8gk> (14.12.2023).

Section 13: Jakob Ruf: Trostbüchlein, 1543. Eigene Aufnahme. Zentralbibliothek Zürich, Alte Drucke.

Section 14: Murerplan, online unter Wikipedia.

Section 15: Jakob Ruf: Trostbüchlein, 1543. Eigene Aufnahme. Zentralbibliothek Zürich, Alte Drucke.

Section 16: Unterschrift Leeuwenhoek, online unter Wikipedia.

Section 17: Bild 1: Kupferstich Sperma, online unter Wikimedia; Bild 2: Portrait van Leewuenhoek, online unter Wikipedia; Bild 3: Hundesperma, online unter Wikimedia.

Section 18: William Cheselden: Anatomy of the Human Body, 1713. Eigene Aufnahme. Zentralbibliothek Zürich, Alte Drucke. 

Section 19: Video: Das Bild vom Spermium im Laufe der Jahrhunderte, online unter: <https://www.ardmediathek.de/video/quarks/das-bild-vom-spermium-im-laufe-der-jahrhunderte/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTc0MWUzMDMzLWRlZjAtNGEwMC04NWZiLTRiM2YxZTdlNjgzYg> (7.12.2023); Bild 1: Homunkulus, online unter Wikipedia.

Section 20: MedLabSolutions: Human Live Sperms under the Microscope at various magnifications 400X,800X and 1600X (Ausschnitt 00:25-00:44), online unter: < https://www.youtube.com/watch?v=IHPB4YjcMG8> (6.12.2023).

Section 21: Bild 1: Karl, Baer: Ovi Mammalium et Homini Genesi, 1827 eigene Aufnahme, UB Zürich Naturwissenschaften; Bild 2: Befruchtung, online unter Wikipedia.

Section 22: Gewebeschnitt von Hoden und Nebenhode, online unter Frontiers.

Section 23: Video: Unerfüllter Kinderwunsch – wenn die männliche Fruchtbarkeit in der Krise steckt, online unter: <https://www.youtube.com/watch?v=oqD-jLWgK-M&t=1s> (7.12.2023).

Section 24: Rindersperma, online unter Wikimedia.