Georg B.

Ein übervolles Leben

Von Patrick Fischer

Es ist der 18. Oktober 1836. Am Tag nach seinem 23. Geburtstag kommt Georg Büchner in Zürich an. Vor mehr als einem Jahr ist er aus Darmstadt geflohen.

Der Naturwissenschaftler, Politaktivist und Dichter will an der neuen Universität Fuss fassen.

Er verspricht sich viel von der Eidgenossenschaft: Mehr Freiheit als im Grossherzogtum Hessen! Freiheit und Friede für alle Menschen! Krieg den Herrschenden in ihren Palästen!

Dass er damit auch den Krach mit seinem Vater riskiert und nirgends mehr zuhause ist, nimmt er in Kauf.

Vier Monate später ist er tot. Was ist passiert?

Mich interessiert das kurze Leben des Georg Büchner. Er starb wenige Jahre älter als meine Schüler*innen, mit denen ich sein Dramenfragment «Woyzeck» lese. Ich selber bin mehr als doppelt so alt. Lebte Büchner mehrere Leben in einem? Die Frage nach der kurzen, prallvollen Vita treibt mich um und deswegen begebe ich mich auf Spurensuche.

Am 13. Juni 1835 erlässt der hessische Untersuchungsrichter und Hofgerichtsrat Georgi einen Steckbrief. Die «Behörden des In- und Auslandes» werden ersucht, den Medizinstudenten Georg Büchner wegen «Theilname an staatsverrätherischen Handlungen» festzunehmen.

Büchner kann gerade noch entwischen, aber die Revolution, die «Der hessische Landbote» vorantreiben soll, liegt nun bei der Polizei und die Mitkämpfer sitzen hinter Gittern. Auch in Strassburg, der ersten Station seiner Flucht, ist er nur geduldet.

Der Steckbrief von Hofgerichtsrat Georgi enthält aufschlussreiche Informationen zu Büchners äusserer Erscheinung:

Alter: 21 Jahre
Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maases
Haare: blond
Stirne: sehr gewölbt
Augenbrauen: blond
Augen: grau
Nase: stark
Mund: klein

Bart: blond
Kinn: rund
Angesicht: oval
Gesichtsfarbe: frisch
Statur: kräftig, schlank
Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit

Die «sehr gewölbte» Stirn fällt nicht nur den Polizeifahndern auf. Auch Büchners Freund Alexis Muston notiert zu seiner Skizze, die er zwei Jahre vorher gezeichnet hat:

«Die Liebe, die Dichtung und das Studium waren der Stoff dieses letzten Gesprächs. [...] Jeder von uns hatte seine Zukunftspläne und seine künstlerischen Neigungen. Ich bezweifle, daß man einen schöneren Kopf als den seinen finden könnte; Goethe hatte keine so schöne Stirn.»

Heutzutage hätten die beiden Freunde vor dem Abschied bestimmt ein Selfie gemacht.

Was verbirgt sich hinter der markanten Stirn des kaum Zwanzigjährigen? Wie und warum verschlug es Büchner nach Zürich? Wie qualifizierte er sich als Dozent für Medizin? Warum schrieb er den «Woyzeck»? Fragen, nicht Gewissheiten, sehe ich auch, wenn ich bei meiner Arbeit als Deutschlehrer am Gymnasium in junge Gesichter blicke. Ihnen versuche Büchners Werke näherzubringen und verständlich zu machen, was mich seit Jahrzehnten an diesen Texten berührt und fesselt!

Mit dem Büchner-Virus habe ich mich 1996 in einem Seminar des Büchner-Herausgebers Henri Poschmann an der FU Berlin angesteckt. Unter seiner Anleitung beugten wir uns über Autographe, verglichen Fassungen, sezierten Entwicklungen und Brüche und suchten Zusammenhänge. Dieses konstruktivistische Vorgehen hat meine Lesepraxis auch weit über Büchner hinaus geprägt!

Bevor er nach Zürich kommt, lebt der junge Georg zuletzt als politischer Flüchtling in Strassburg. Die Metropole des geistigen Lebens ist heute ein Hotspot für Sauerkrautfreunde, Büchner findet dort vorübergehend Unterschlupf: Er versucht im Eiltempo sein Studium abzuschliessen.

Er ist als Sans-papier nur noch geduldet. Dies hat sich geändert seit seinem ersten Aufenthalt in Strassburg. Nun ist er auf der Flucht, ein Getriebener wie Jakob Michael Reinhold Lenz, ein Dichterkollege, dem Büchner eine Künstlernovelle widmet. Ihre Hauptfigur fand Zuflucht bei Pfarrer Oberlin.

Vergangenen August hat unsere Fachschaft Deutsch das verwunschene Dörfchen besucht. Das Steintal ist tatsächlich so, wie es heisst: karg, abgelegen, trotz der präsenten Dorfkirche wirkt es auch etwas gottverlassen. Wie ich vor dem heute etwas heruntergekommenen Haus von Oberlin gestanden bin, habe ich den tiefen Frieden gespürt. Vielleicht sogar denselben Frieden, den Büchner beim Wandern und Schreiben getankt hat. Wie ein Besessener arbeitet er an seiner Doktorarbeit. Dieser Ausgleich wird ihm in Zürich fehlen.

Die meiste Zeit steht Büchner jedoch am Seziertisch und untersucht Nervensysteme von Fischen: Er seziert Karpfen, Hechte und Lachse sowie diverse andere Fischarten und verfasst seine Doktorarbeit über das Nervensystem der Barben. Dabei entdeckt er bislang unbekannte Verbindungen zwischen den Kopfnerven der Fische.

Er präpariert Achsenskelette, Schädel, Kiemen, Gehirne und Spinal- und Hirnnerven und stellt die Hypothese auf, dass diese Nervensysteme mit denjenigen höherer Wirbeltierarten verglichen werden können.

Was Büchners Erkenntnisse heute noch wert sind, ist für Laien schwer zu beurteilen. Der Kultursender 3sat hat dazu Werner Kloas vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei der Humboldt-Universität Berlin befragt. Er bestätigt, dass Büchners Erkenntnisse nach wie vor weitgehend gültig sind, und zeigt sich beeindruckt von dessen zeichnerischen Fähigkeiten.

Auch wenn die Theorie, das Gehirn habe sich aus den Rückenmarksnerven und der Schädel aus der Wirbelsäule entwickelt, heute widerlegt ist, hat Büchner die noch heute gültige  Grundstruktur der Nervenbahnen entdeckt.

Die Ergebnisse sind bedeutend und seine Forschungen lösen in Strassburg ausnahmslos positives Echo aus. Er ist als brillanter Analytiker und feinmotorisch äusserst geschickter Präparator anerkannt. Dennoch hat er als Deutscher in der französischen Stadt keine beruflichen Perspektiven.

Bessere Aussichten hat er an der neu gegründeten Universität Zürich. Seit 1830 hat der Kanton eine liberale Verfassung, verschiedene Reformen, die Säkularisierung des Schulwesens und die Industrialisierung versetzen Zürich in eine Aufbruchsstimmung. Da sieht Büchner seine Chance. Auch wenn sich die Einreisebedingungen schwieriger erweisen als erwartet, an der Uni kommt er rasch gut an.

Auch wenn er weiter Fische und Amphibien zerschneidet, geht es Büchner um das Verständnis des menschlichen Organismus: In seinem Probevortrag an der Universität Zürich benennt er sechs Hirnnervenpaare des menschlichen Schädels, welche für die Sinneswahrnehmungen Sehen, Hören, Riechen und Schmecken sowie für vegetative Körperfunktionen wie Atmung, Verdauung und Sex verantwortlich sind.

Er ist sehr produktiv und fertigt für seine Vorlesungen zahlreiche Präparate an.
Seine technischen Möglichkeiten sind jedoch beschränkt: Er muss sich mit Lupen behelfen, um die feinen Strukturen erkennen zu können. Taugliche Konservierungsmethoden gibt es nicht. So kann er nur frisch getötete Tiere analysieren.

Die oft repetitive Arbeit langweilt Büchner. An seine Verlobte schreibt er, die Arbeit laste ihn intellektuell nicht aus, er könne aber seinen Gedanken freien Lauf lassen:

«Das Beste ist, meine Phantasie ist thätig, und die mechanische Beschäftigung des Präparirens läßt ihr Raum. Ich sehe dich immer so halb durch zwischen Fischschwänzen, Froschzehen etc...»

Büchner stösst auch an wissenschaftliche Grenzen. Er interessiert sich nicht nur für die Anatomie der Körper, sondern auch für die Anatomie der Gedanken.

«Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren!», lässt er Danton im gleichnamigen Stück sagen und entwirft damit die Idee von Neurowissenschaften.

Heute muss man nicht mehr Köpfe zertrümmern, wenn man Hirnen beim Denken zusehen will. Neurowissenschaftler können Hirnaktivitäten mit Lichtmikroskopen sichtbar machen. Büchners wissenschaftliche Nachfahren an der Uni Zürich können Gedanken sichtbar machen. Fritjof Helmchen sagt, man beginne zu verstehen, wie das Hirn lerne.

Diese Bildgebungsverfahren sind jedoch in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten: Es ist nicht abschliessend geklärt, dass man von einer höheren Durchblutung von Hirnarealen auf Gedanken schliessen kann. Zudem begreife man heute das Hirn als Netzwerk. Die Ursachen eines Phänomens seien nicht zwingend dort sichtbar, wo dieses manifest werde.

Wäre Büchner heute Neurowissenschaftler? Oder hätte er ein KI-Startup gegründet? Zu seiner Zeit bleibt ihm nur der literarische Weg, Gedanken und seelische Vorgänge lesbar zu machen. Parallel zur naturwissenschaftlichen Arbeit schreibt er nachts unter Hochdruck an seinem Drama «Woyzeck». Die Theaterbühne wird zu seinem literarischen Seziertisch.

Den Stoff des historischen Johann Christian Woyzeck, der 1824 nach dem Mord an seiner Geliebten in Leipzig öffentlich hingerichtet wurde, kennt der Dichter bereits aus den Erzählungen seines Vaters Ernst Karl Büchner. Dieser ist dem Soldaten und arbeitslosen Perückenmacher während seines Diensts als Sanitäter in der holländisch-französischen Armee begegnet. Auch die zeitgenössische Debatte um die Schuldfähigkeit des an Schizophrenie Erkrankten verfolgt der Naturforscher nachweislich.

Dass sich Büchner mit diesem Stoff beschäftigt, ist aber auch sonst kein Zufall: Er leistet tagtäglich ein gewaltiges Arbeitspensum als Naturwissenschaftler, Unidozent und Dichter. Wie bereits während der Arbeit an der Doktorarbeit sitzt er praktisch Tag und Nacht am Schreibtisch. Sogar seine Mutter bittet ihn, öfter Pausen einzulegen und in Gesellschaft zu gehen. Aber er steht unter massivem Erfolgsdruck.

Zudem fehlen ihm anatomische Präparate für seine Lehrveranstaltungen an der Universität Zürich.

Er muss dies Präparate selbst herstellen. Er ist immer noch sehr knapp bei Kasse und der unsichere Aufenthaltsstatus in der Schweiz belastet ihn zusätzlich. Sein Umfeld macht sich Sorgen und seine Schwester berichtete den Eltern, der Bruder wirke fahrig, geschwächt und abwesend.

Anfang Februar 1837 erkrankt Büchner und muss seine anatomische Vorlesung absagen, welche er dreimal wöchentlich in seinem Zimmer an der Spiegelgasse hält. Er hat sich wahrscheinlich beim Präparieren kontaminierter Fische mit Typhusbakterien infiziert.

Die Krankheit nimmt einen besonders gravierenden Verlauf, er halluziniert und stirbt in Anwesenheit seiner Verlobten am 19. Februar 1837 in seinem Zimmer.

Sein Drama Woyzeck bleibt Fragment – wie sein Leben.

Aber er hat der Welt die Stirn geboten. Seine Stirne! Und sein kurzes, übervolles Leben!

Ich habe meiner Maturaklasse die Zusammenhänge zwischen Büchners naturwissenschaftlichen und literarischen Werken erläutert. Die bruchstückhafte Textgestalt des Woyzeck habe ich mit fliegenden Blättern verdeutlicht und den Schüler*innen den Auftrag gegeben, selber eine Szenenabfolge zu entwerfen. «Warum sollen wir einen unfertigen Text lesen?», fragt M. gegen Ende einer Schulstunde beim Zusammenpuzzeln.

Eine abschliessende Antwort erscheint so aussichtslos wie eine bruchlose, widerspruchsfreie Lesefassung des Theaterstücks. Die Lektüre schärft aber unseren Blick für Büchners bis heute höchstens teilweise beantwortete Fragen: Wie denken Menschen und was beeinflusst ihre Gedanken? Die Neurowissenschaften versuchen Licht in die Entstehung menschlicher Gedankengänge zu bringen. Künstliche Intelligenzen vermögen Gedanken zu simulieren und Entscheidungen zu treffen, ohne diese zu verstehen.

Ein umfassendes Verständnis des Verstehens und Lernens leisten weder die Wissenschaften noch künstliche Intelligenzen noch die Literatur. Das Verstehen versteht bis jetzt noch niemand. Jede Erkenntnis ist bruchstückhaft, unfertig und von Unverständnis umgeben. Büchners Fragment ist inhaltlich und materiell eine Metapher für diese paradoxe Situation.

Alles bleibt in Bewegung - Büchner findet zunächst nicht einmal im Tod seine Ruhe. Er wird zunächst auf im «Krautgarten»bestattet. Der auf dem heutigen Kunsthausareal gelegene Friedhof wird aber einige Jahre später aufgehoben. Seit 1875 befindet sich das Büchnergrab auf dem Germaniahügel. Aber auch seine Leser*innen lässt der Dichter nicht in Ruhe. Weil alles so bruchstückhaft erscheint, müssen wir immer wieder neue Zugänge suchen: zu seinen Texten, zu seinem Denken und zu seiner Person.

Dank

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei allen bedanken, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben.

Ein spezieller Dank geht an unsere Dozentin Hildegard Keller, die mir immer mit Rat und Tat zur Seite stand.
Ebenfalls bedanke ich mich bei meinen beiden Tandems, Leandra Pesavento und Anna Larcher, die meine Texte korrigierten und mir hilfreiche Gestaltungsideen gaben.

Quellenverzeichnis

Porträt Büchner (Skizze Alexis Muston): https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_B%C3%BCchner
Fotografie Strassburg: Michael Streiff
Fotografie Waldersbach: eigene Aufnahme
Büchners Zeichnungen: Mémoire sur le système nerveux du barbeau: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/varia/content/pageview/5460273
Büchner-Protokoll. Auf den Spuren Georg Büchners (Video, 3sat): https://www.youtube.com/watch?v=JRtozY904iI&t=2351s
Universitätsgebäude Zürich, Hinteramt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Universitaet_Zuerich_1838_1864_(2).jpeg
Porträt Wilhelmine Jaeglé: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_B%C3%BCchner#/media/Datei:MinnaJaegle1830.JPG
Porträt Johann Christian Woyzeck: https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Christian_Woyzeck
Die Barbe - eine anspruchsvolle Fischart: https://www.youtube.com/watch?v=HXcLT3CgjLE&t=1s
Dem Hirn beim Denken zusehen: https://www.youtube.com/watch?v=gFJJi0wPpnM&t=13s
Bild aus dem Schulzimmer der Kantonsschule Ausserschwyz (Standort Nuolen) auf den Zürichsee: eigene Aufnahme
Büchners Grab: eigene Aufnahme