Ein Haus. Zweiter Teil
Geschichten von Marie Heylen, Flurina Marugg, Joey Huang und Joel Schriber


Wir schreiben hier gemeinsam eine Story.
Wir erzählen von Häusern, die wir bewohnt und erlebt haben. Häuser, die ihre Geschichte mit uns geteilt haben.
Die rote Backsteinfassade erinnerte an das industrielle England – Produktion dank Destruktion. (Joel)
Im Hintergrund höre ich die Töpfe meiner Oma in der Küche klingeln. (Marie)
Die Mauern, durchzogen von Rissen, wirken wie das Gesicht eines Alten, der voller Geschichten steckt. (Flurina)
Heute sehe ich zu, wie die Kügelibahn andere Kinder verzaubert und sie wie ein Magnet anzieht. (Joey)
Ich suche ständig das passende Wort. Auch jetzt, beim Schreiben. Worte, Sätze, Geschichten entstehen wie ein Haus. Mit Worten als Bausteine zur Sprache als Kunst-Stück. (Joel)
Wurzeln aus der Kindheit
Marie Heylen

An einem Sommerabend im August sitze ich mit meinem Opa auf der Veranda. Wir schauen uns, wie wir das früher so oft gemacht haben, den Gemüsegarten an. Im Hintergrund höre ich die Töpfe meiner Oma in der Küche klingeln. Ich versinke immer weiter in Erinnerungen an meine Kindheit, bis Opa zu reden anfängt. Er erzählt mir, dass er noch einen Wunsch hat: erleben, wie ich, seine einzige Enkelin, meinen 18. Geburtstag feiere und erwachsen werde. Am 17. Februar 2022, genau 66 Tage vor meinem 18. Geburtstag, starb er.
Obwohl sein Wunsch leider nie in Erfüllung gegangen ist, spüre ich trotzdem, dass er in mir die Liebe zur Natur geweckt hat. Darin lebt er bis jetzt noch immer weiter.
Wenn ich meine Oma heute besuche, schauen wir uns zusammen diesen Gemüsegarten an, in dem ich so viel mit meinem Opa gearbeitet habe. Plötzlich höre ich wieder das Geräusch seiner Schaufel, spüre die kempische Erde zwischen meinen Fingern und schmecke erneut die Schärfe von Radieschen auf meiner Zunge.


Hier in diesem Garten habe ich zum ersten Mal gespürt, wie es sich anfühlt, frische Luft einzuatmen, und was es heisst, nach einem anstrengenden Schultag zur Ruhe zu kommen. Dank meinem Opa habe ich eine grosse Verbundenheit zur Natur entwickelt. Während wir uns so bemühten, die Pflanzen im trockenen, kempischen Sandboden wachsen zu lassen, waren es vor allem die Wurzeln meiner Persönlichkeit, die die Chance bekamen, sich zu entfalten und verzweigen. Dafür bin ich ihm ewig dankbar.

Chasa Cattani
Flurina Marugg

Ein Steinhaus, über die Jahre von harten Wintern gezeichnet. Die Mauern, durchzogen von Rissen, wirken wie das Gesicht eines Alten, der voller Geschichten steckt. Von aussen wirkt es rau und unnahbar, als müsste es auch im Sommer Stürmen trotzen, die das Tal durchziehen. Das ist das Ferienhaus unserer Familie im Unterengadin. Als Kind konnte ich nie verstehen, warum dieses Haus für meine Eltern so eine Bedeutung hatte. Die Kälte schlich nachts durch die Ritzen, Bettflaschen mussten uns in frostigen Nächten wärmen, und das Knacken des brennenden Holzes liess mich zusammenzucken. Alles in diesem Haus war fremd und schwer zu ertragen, die Natur um uns herum wild und abweisend. Heute sehe ich dieses Haus mit anderen Augen.
Jedes Jahr, bevor die Kälte kommt, schaffen wir die Holzvorräte ins Tenn. Es ist eine kleine Zeremonie für uns, fast wie eine Begrüßung des Winters. „Das gibt zweimal warm, einmal beim Reintragen und einmal beim Einfeuern“, sagt mein Vater, und ich schmunzle – im Wissen, dass er recht hat. Diese Arbeit gehört dazu, sie macht die Wärme, die ich später spüre, noch wertvoller. Das Haus bleibt dabei ruhig und gelassen – es wartet, bis ich es fülle, bis ich ihm Leben einhauche. Kaum ist der Ofen entzündet, werden die Räume wohlig warm, die Kälte zieht sich langsam aus den Mauern zurück, und ich spüre die Geborgenheit, die sich über mich legt.
Die vertrauten Möbel, das sanfte Licht durch die kleinen Fenster und die Stille, die nur vom Knistern des Feuers unterbrochen wird, haben meinen Blick auf das Haus über die Jahre verändert. Es ist nicht mehr die harte Kälte, die mir als Kind so eindrücklich war, sondern die Ruhe und Beständigkeit, die das Haus ausstrahlt. Heute verstehe ich, warum es für meine Eltern immer ein Rückzugsort war, und ich finde in ihm denselben Frieden. Es verlangt Einsatz und gibt zugleich zurück, und gerade darin liegt sein Wert. Es ist der Ort, zu dem ich immer wieder zurückkehre, weil seine stille Beständigkeit für mich ein Zuhause bedeutet.



Nostalgisches Hoflädeli
Von Joey Huang

Ich möchte von einem Hoflädeli erzählen, das mich seit meiner Kindheit begleitet. Kaum betrete ich den Laden, begrüsst mich der vertraute Anblick: Die rote Kügelibahn sticht mir ins Auge, ein treuer Wächter rechts von der Tür.
Wie immer liess ich früher Mamas Hand los und stürmte auf die Murmeln zu. Eine nach der anderen legte ich sie auf die Spitze der Bahn hin und staunte, wie rasch sie herabrollten und über das Holz klackerten. In der Ferne hörte ich das Rascheln der Einkaufstüte, denn Mama liess sich die roten Äpfel einpacken. Das Ende meiner Spielzeit läutete ein. Mama sagte «Tschüss» zur Ladenbesitzerin und ich zur Kügelibahn.

Heute sehe ich zu, wie die Kügelibahn andere Kinder verzaubert und sie wie ein Magnet anzieht. Manchmal fällt eine Murmel aus einer ungeschickten Kindeshand und rollt quer durch den ganzen Laden. Ab und zu verschwindet sie sogar unter dem Kühlregal. Den Laden nehme ich nun mit anderen Augen wahr als früher. Mein Blick schweift über die Ablagen, auf denen ein Dutzend Kisten mit Äpfeln, Birnen, Kartoffeln, Zwetschgen und Quitten liegt.
Draussen befindet sich eine modernere Variante, das frisches Obst zu jeder Tages- und Nachtzeit anbietet: ein Automat, auch er ein Spektakel für Kinder. Das Einwerfen der Münzen, die Wahl der richtigen Nummer und das darauffolgende Aufspringen des Törchens gleicht einem Ritual. Der Mechanismus lässt die Kinder mit offenem Mund dastehen. Jedes der 65 metallenen Fächli hat seine eigene akustische Signatur, sobald es sich öffnet.
Am Ende jedes Besuchs stehe ich nun dort, wo Mama einst die Ware bezahlte. Mit einem Säckli voller Äpfel in der Hand übernehme ich heute die Rolle der Einkäuferin und verabschiede mich von der Ladenbesitzerin. «Tschüss», sage ich ihr beim Hinausgehen und werfe kurz einen verstohlenen Blick auf die Kügelibahn zurück.


Sprachliche Bauten & Neue Welten
Joel Schriber

«Bagg’m» gehört zu meinen ersten Worten. Die Baustelle gegenüber ist vom Balkongeländer eingerahmt. Dennoch verbringe ich Stunden damit, dem Bagger zuzuschauen. Ich bin eins.
An die Wohnung an der Wildbachstrasse kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Wir sind wenig später weggezogen. Bis heute geblieben ist der Enthusiasmus, der das «Bagg’m» jeweils begleitet hat. Ein Enthusiasmus für Sprache und Neues.
Neu war unsere Wohnung nicht. Die rote Backsteinfassade erinnerte an das industrielle England – Produktion dank Destruktion. Etwas, das auch meine Äusserung auf dem Balkon vermittelt. «Bagg’m» dank Baustelle. Neu ist mein Sprechen. Und das Haus gegenüber.

Der Bagger hat einen neuen Ort geschaffen. Einen Ort, der vom Balkon aus weit weg schien. Ein Sehnsuchtsort, der zum Tagträumen einlud. Auch heute vergehen Stunden, in denen ich mich wegträume.
Denn fremde Welten reizen mich immer noch – Welten im Sinne von Menschen, Interaktionen. Ich reise in mögliche Begegnungen, Konversationen, Erfahrungen. Mentale Reisen für Zwischendurch. Neue Blickwinkel für immer.
Baustellen und Bagger interessieren mich nicht mehr. Dafür Mittel, die mich mit neuen Orten kommunizieren lassen. Das «Bagg’m» war mein Zugang zur Baustelle. Sprachen sind mein Zugang zu Geschichten. Heute spreche ich fünf.

Ich suche ständig das passende Wort. Auch jetzt, beim Schreiben. Worte, Sätze, Geschichten entstehen wie ein Haus. Mit Worten als Bausteine zur Sprache als Kunst-Stück.