Ein Haus
Geschichten von Moira Dinkel, Joshua Gutenberg, Anna Schwaller, Nicole Stejskal und Lea Tobler


Wir schreiben hier gemeinsam eine Story.
Wir erzählen von Häusern, die wir bewohnt und erlebt haben. Häuser, die ihre Geschichte mit uns geteilt haben.
Immer wieder trugen die Strömungen mich zurück zu dir. Zurück an den Ursprung. (Joshua)
Aber nicht nur wir, sondern auch das Hüsli hat sich verändert. (Lea)
Ich habe den Turm zuerst gesehen!, klingt es von der Rückbank her. (Moira)
Vier Stockwerke mitsamt dunklem Keller, wo im Winter sogar die Mäuse froren. (Nicole)
Tagsüber durchflutet die Sonne die Arbeits- und Wohnräume und taucht uns alle in Gold. (Anna)
Mis Huus, dis Huus
Anna Schwaller

Zwischen Kirchturm, Bäckerei, Uetliberg und Männerhaus – einer sozialen Einrichtung der reformierten Kirche Zürich – befindet sich die denkmalgeschützte Wohnung am Zürcher Stadtrand. Mein Reich, das vor allem eines birgt: Charme! Beim Eintreten begrüssen mich Pflanzen und Bücher, goldige Kerzen, Spiegel und Vasen. Tagsüber durchflutet die Sonne die Arbeits- und Wohnräume und taucht uns alle in Gold. Von Anfang an habe ich mich hier wohlgefühlt.
Mein Blick schweift durch die Fenster auf die Herbstlandschaft. Die Bäume beginnen sich zu verfärben, grün wird zu gelb, rot, braun. Der Wald zieht sein buntes Herbstkleid an, bis er es ganz fallenlässt. Die goldige Jahreszeit weckt Kindheitserinnerungen: Kuscheldecke und Kürbissuppe, Pressen von Herbstblättern, stundenlanges Kastaniensammeln. Als stille Beobachterin wandert mein Blick durch die Fensterrahmen, hinaus auf den Zürcher Hausberg und zurück in meine Kindheit.

Früher war das Kinderzimmer mein Rückzugsort, den ich ganz nach meinen Vorlieben gestaltete. Stundenlang verweilte ich allein im Zimmer. Die Uhr an der Wand lehrte mich den Tag im Stundentakt zu zählen. Ich erinnere mich an die Tiergeräusche, die zu jeder vollen Stunde ertönten. «Miau» – zwei Uhr, die Mittagspause ist vorbei. Doch ich will im Zimmer bleiben, in meinem Reich der Fantasie.
Noch heute schenken mir die Wände meiner Wohnung Geborgenheit. Während ich drinnen sitze, wechseln draussen die Jahreszeiten und Farbtöne. Doch das Heimatgefühl in meinen vier Wänden bleibt.

Zufluchtsort, Kreativatelier und zugleich Raum für Gemeinschaft und Begegnungen – das alles und noch viel mehr ist mein Zuhause. Obwohl das Kinderzimmer einst mein persönlicher Rückzugsort war, empfinde ich heute das wohligste Zuhause-Gefühl, wenn meine Wohnung lebt, tiefsinnige Gespräche die Räume erhellen, gekocht, gegessen, gelacht, getanzt wird. Kurz gesagt: Wenn der Raum zum Lebensraum wird.

Bei den Grosseltern
Nicole Stejskal


Das Haus meiner Grosseltern stand in einem Dorf im Appenzell. Als ich ein kleines Kind war, wirkte es riesig. Zugegeben, das war es auch. Vier Stockwerke mitsamt dunklem Keller, wo im Winter sogar die Mäuse froren, und ein unheimlicher Dachboden, der mehr Fliegenleichen zählte als jeder Kuhstall. Dennoch ist das Haus für mich mit mehr Wärme und Gemütlichkeit verbunden als jedes andere. Jedes Oster- und Weihnachtsfest haben wir dort mit der ganzen Familie verbracht. Manchmal feierten wir sogar im Schnee, nur leider öfters an Ostern als an Weihnachten. Wir assen im Wohnzimmer an Festbänken, aber weil die Familie stetig weiterwuchs, hatten wir irgendwann kaum Platz für alle. Nach dem Essen haben wir immer Lotto gespielt. Jeder war voller Konzentration dabei, um die heiss ersehnten Mandarinen und Schokoladenriegel zu gewinnen.

Auch in den Schulferien war ich regelmässig da. Im Winter wurde der Kachelofen eingeheizt, im Sommer gingen wir auf Velotour am See oder verbrachten Zeit in ihrem Schrebergarten. Nicht zu vergessen, dass Grosi ausgezeichnet gekocht und gebacken hat. Egal zu welcher Tageszeit, die Luft war immer mit den wunderbaren Aromen ihrer Leckerbissen erfüllt. Ausserdem durfte ich mehr oder weniger alles machen, was ich wollte. Weder Hausaufgaben noch Ämtli mussten erledigt werden, weder Fernseh- noch Schlafenszeiten wurden eingehalten. Auch als Erwachsene bin ich oft zu ihnen gefahren und habe gerne eine Woche da verbracht. Die Zeiten hatten sich geändert, doch die Freude ist geblieben. Fotos habe ich nie gemacht. Wieso auch, ich gehe sowieso bald wieder hin.
Mittlerweile sind beide Grosseltern verstorben. Das Haus wurde verkauft. Mit viel Melancholie und Tränen wurde Lebewohl gesagt. Doch es bringt mir Frieden zu wissen, dass nun eine neue Familie diesem jahrhundertealten Haus Leben einhauchen kann.

Casa Julia
Moira Dinkel

«Ich habe den Turm zuerst gesehen!», klingt es von der Rückbank her. Die endlosen Serpentinen der Surselva lassen meinen Blick verzweifelt am Horizont haften, während Übelkeit in mir aufsteigt. Doch der Ruf aus der Rückbank verspricht baldige Linderung. Der Kirchturm erhebt sich wie ein stummer Wächter über uns, als wir das Ende unserer langen Fahrt erreichen und in die Via Cavischlè einbiegen. Zu Hause. Auf eine Art.

Ein paar späte Sonnenstrahlen wärmen die Holzbank vor der Casa Julia. Mein Vater öffnet die schwere, knarrende Tür, als ob sie die Erinnerungen eines langen Sommers bewahren würde. Schweigend schichtet er die Holzscheite im steinernen Ofen auf, wie in einem Ritual, das uns vor der Kälte der ersten Winternächte schützt. Es dauert, bis die Wärme den Weg durch das alte Haus ins Schafzimmer findet. Im Schafzimmer hört man im Sommer die Schafe blöken. Im Fliegenzimmer fliegen einem die Fliegen entgegen. Und in allen Zimmern, unnachgiebig, das ewige Läuten des Kirchturms. Tag und Nacht. Fremde mögen das Glockenspiel nicht. Ich bin keine Fremde.

Früher erschien mir das Haus wie ein stiller, schwerer Koloss, der uns verschluckte, wenn wir am Wochenende hochfuhren. Die Wände atmeten Kälte, die Tage zogen endlos vorüber, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als zurück zu meinen Freunden in die Stadt zu kommen. Doch mit jedem Jahr, jedem Besuch, unmerklich, veränderte sich etwas in mir.

Im Winter empfing uns die vertraute Wärme des Ofens wie eine alte Vertraute, die man zu lange vermisst hat. Das Holz knarzte vertraut, und der Geruch von Groslis Gerstensuppe erfüllte die Küche. Im Frühling suchte ich nach versteckten Ostereiern und entdeckte die stillen, geheimnisvollen Ecken des Hauses. Jedes Mal, wenn ich ein Ei fand, war es, als hätte das Haus selbst es mir geschenkt – als zeige es mir, dass es auch für mich da war. Im Sommer schimmerte das Holz golden in der Abendsonne, wenn wir uns nach Stunden zwischen den Bergwipfeln erschöpft in die Gartenstühle sinken liessen, und im Herbst drang der Duft von gerösteten Marroni und erdigen Pilzen tief in die Dielen ein. Und wenn die Nacht hereinbrach, knarzte das Haus wie ein alter Freund, erzählte von den Leben, die es kannte, und von den Stimmen, die hier lebten. Heute weiss ich, dass die Glocken, welche die Fremden wecken, mich nach Hause rufen.

Heimsuchung
Joshua Gutenberg

Immer wieder trugen die Strömungen mich zurück zu dir. Zurück an den Ursprung. Zum alles Verschlingenden und Konservierenden. Zurück zu der Stelle, deren Anziehungskraft nur von ihrer Abstossungskraft überboten wird – deiner Kraft. Zurück in die Zeit, als erste, kaum lesbare Buchstaben das weisse Blatt meines Wesens zu zieren begannen. Was trieb mich stets zurück in deinen Schlund? Dein Rasen, auf dem wir im Sommer mit Bällen spielten, im Winter die ersten Iglus konstruierten? Welcher Zauber verbirgt sich hinter deiner farblosen Fassade und deinen kuhfladengrünen Fensterläden? Deinem ächzenden Garagentor und deinen von Kellerspinnen besiedelten Ecken und Winkeln?
Ihn hier in meinen Worten aufzuspüren, vermag ich nicht, vielleicht aus Angst, es gebe ihn womöglich nicht. Zweischneidig ist das Schwert der Nostalgie; frohe Erinnerungen wiedererlebend, zugewachsene Narben aufreissend. Wehmütig dennoch blicke ich beim Davonlaufen nach hinten, zurück zu dir, dankbar für die Zeit der Geborgenheit, die du mir schenktest, und dankbar für das Ende jener Zeit.
Doch was ist das Ende, wenn nicht ein Anfang?
Als ich aufhörte, dich zu bewohnen, begannst du, mich zu bewohnen, meinen Geist, meine Erinnerung. Nun bist du es, die über die knarrenden Holzböden meiner Gedanken wandert, meine quietschenden Türklinken herunterdrückt, aus meinen Fenstern hinaus auf die Strasse blickt und die Kinder der neu eingezogenen Familien beim Spielen beobachtet. Erkennst auch du dich selbst in ihnen wieder, so wie ich?
Nie wieder wird es sein, wie es war, als du noch lebloser Bau warst, aufeinandergeschichteter Stein, rissiges Holz, unsauberes Glas, hinter dem man sich eingesperrt und doch so sicher glaubte. Dahinsterben musstest du, um auferstehen zu können als geisterhaftes Bild im hintersten Winkel meines Kopfes. Und da stehst du nun, erhabener, als ich dich je zuvor wahrgenommen hatte, wohnst in mir, wie ich einst in dir. Buchstäbliche Heimsuchung.



Das Hüsli
Von Lea Tobler

Das «Hüsli», so nennen wir das Haus in Österreich, das man in der Nachbarschaft liebevoll Hexenhaus nennt. Es könnte aus einem Märchen sein. Die Fassade aus Holz, doch im Inneren mit massiven Steinwänden. Mein Grossvater hat es vor fast 20 Jahren gekauft und seitdem fahren wir mehrmals im Jahr dahin.
Früher hatte es oft so viel Schnee, dass wir aufs Dach klettern mussten, um es vom Gewicht zu befreien, aus Angst, dass das «Hüsli» einstürzen könnte. Wir haben dann im Garten eine Schneebar, inklusive Zapfhahn aus Eis gebaut und dazu passende Schneesessel. Meine Kindheitsfreund*innen haben uns in den Ferien begleitet und die ganze Familie war schon dort.
Früher haben wir immer im «Hüsli» Weihnachten gefeiert. Drei Tage lang kamen wir alle zusammen, assen, tranken und genossen den Schnee. Damals war die Küche noch eine Alte aus Holz und wir mussten das Geschirr von 20 Leuten von Hand abwaschen. Wir mussten immer ein wenig streiten, damit uns unsere Oma helfen liess. Damals mochte ich diese Aufgabe nicht, heute würde ich das Geschirr tausende Male abwaschen, könnte ich noch einmal mit ihr essen.
Mit meinem Grossvater das erste Mal allein war ich im «Hüsli», als ich meine Maturaarbeit schrieb. Während drei Tagen habe ich mich dort verschanzt und er hat mich mit Essen versorgt und jeden Abend ausgeführt. Es war ein unausgesprochenes füreinander Dasein, sich umeinander Kümmern, so wie wir beide das konnten.
Mittlerweile ist die Familie gewachsen und hat sich verändert und findet selten Zeit und Platz einander zu sehen. Das Hüsli ist schon vor Jahren für uns alle zu klein geworden. Aber alle bleiben mit dem Ort verbunden, auf ihre eigene Weise.
Aber nicht nur wir, sondern auch das Hüsli hat sich verändert, die urchigen Holzböden wurden abgeschliffen und hell lasiert. Das grosse hässliche Sofa wurde durch eine schicke Ledercouch ersetzt. Der kleine Einkaufsladen unter der Treppe ist verschwunden und die Küche ist hochmodern und hat sogar einen Geschirrspüler. Die Magie des Hüsli ist abgeklungen, vielleicht mit meinem Älterwerden, vielleicht mit den Veränderungen. Aber die grüne Schäfchenbettwäsche, das Rauschen des Flusses und der Geruch, die sind noch geblieben und versetzen mich noch heute bei jedem Besuch in meine Kindheit zurück.

