Den Kranken behülflich

Von der Wundgschau zum Krankenkassenchaos

von Anna Larcher

Das Aquarium des Wartezimmers brummt leise. Der gepunktete Cleaner-Fisch schrubbt schon seine zweite Runde, seit ich in der Praxis meiner Hausärztin angekommen bin. Endlich ruft die Assistentin meinen Namen auf und ich reiche ihr meine Krankenkassenkarte – die Mühlen des Systems beginnen zu arbeiten. Dieses System kostet im Jahr 2024 allerdings mehr denn je. Schweizweit steigen die Krankenkassenprämien um 8.7 %, im Kanton Zürich um 6.14 %.

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Das Thema ist überall präsent: Fremde Nummern rufen an, bieten mir Krankenkassenvergleiche an und selbst an Partys diskutiere ich darüber, ob der Zusammenbruch des Gesundheitssystems bevorsteht. Wie die Kosten eindämmen? Die Politik ist sich uneinig.

Nach dem Termin bei meiner Hausärztin nehme ich an einer Zürcher Stadtführung teil. Ich erfahre von einer wichtigen Zürcher Medizinalbehörde des 16. Jahrhunderts: die Wundgschau. Es klingt nach Sozialmedizin. Ich bin neugierig, beginne zu recherchieren und tauche ins Heilen und Kranksein in Zürich vor fünfhundert Jahren ein.

Zürich 1534

Zürich um ca. 1500 mit Wellenberg & Grendel, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Zürich um ca. 1500 mit Wellenberg & Grendel, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Es ist Montag nach Oculi – Montag nach dem dritten Fastensonntag, wir schreiben das Jahr 1534. Die Glocken des Grossmünsters haben soeben achtmal geschlagen. Vor dem Zürcher Rathaus tummeln sich Kranke. An manchen Tagen reicht die Warteschlange bis zur Rathausbrücke, sodass den Stadtbürger:innen der Zugang zum kleinen Brunnen am linken Rand der Brücke vor lauter Menschenmassen versperrt ist. Man muss sich an Wunden vorbeizwängen. Hier haben alle irgendein Leiden, wofür sie Heilung suchen. Sie hoffen, vor die Wundgschau treten zu können, eine Medizinalbehörde und ein Instrument der städtischen Gesundheitsversorgung. Der Rat und die Scherermeister – wie Chirurgen und Wundärzte genannt werden – versammeln sich als Gschauer im Rathaus. Einmal wöchentlich empfangen sie Kranke, die eine medizinische Behandlung nicht selbst bezahlen können. Das Gelände um das Zürcher Rathaus verwandelt sich also in ein Wartezimmer unter freiem Himmel. Erwecken die wartenden Kranken das Mitleid der anderen Stadtbewohner:innen? Vielleicht schenken einige den Wartenden ein Getränk aus; drücken ihnen einen Apfel in die Hand. Oder wird eher der Unmut oder die Angst vor Ansteckung geschürt? Wusste man denn schon, wie Krankheiten übertragen werden?

Rathausbrücke um ca. 1500, Chronik Diebold Schilling, Tafel 264, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Rathausbrücke um ca. 1500, Chronik Diebold Schilling, Tafel 264, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Die Quellen sind nicht dicht gesät, wir sind auf Vermutungen angewiesen. Was unter anderem überliefert ist, sind Wundgschau-Zettel: Werden die mittellosen Kranken nämlich zur Wungschau zugelassen, treten sie vor die Gschauer, die eine Diagnose stellen und über die weitere Behandlung entscheiden. Der Stadtschreiber stellt dann den «Wundgschau»-Patient:innen einen Schein aus, der die beschlossene Behandlungsart und -ort festhält.

So stellt am 09. März 1534 der Stadtschreiber der arm Oberholtzerin folgenden Schein aus:

Tagsatzung im Zürcher Rathaus um ca. 1520, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Tagsatzung im Zürcher Rathaus um ca. 1520, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

dass meister Jacob dise arme Oberholtzerin vmb gotswillen schnÿden

so wollent sÿ ihren narung vnnd vffenndthalt von ihrem Spital geben

Stattschryber

Jakob Ruf

Der Stadtschnittarzt und das Heiliggeist-Spital

Die arm Oberholtzerin ist vielleicht eine verarmte Witwe – viele Frauen verarmen, wenn der Ehemann verstirbt. Oberholtzer heisst wohl ihr Mann selig. Man bittet den Stadtschnittarzt von Zürich, Jakob Ruf, die arm Oberholtzerin zu schneiden, schnÿden, sie also zu operieren. Ausserdem verspricht der Wundgschau-Zettel der Oberholtzerin Aufenthalt und Essen im Spital.

Was wissen wir über diesen Stadtschnittarzt? Jakob Ruf hat von 1532 bis zu seinem Tod im Jahr 1558 das Amt des Stadtschnittarztes in der Stadt Zürich inne. Er ist also der höchste Chirurg der Stadt. Der Wahlzürcher stammt ursprünglich aus einer Konstanzer Handwerkerfamilie. Die Quellen zeigen, wie gut er sein Handwerk als Stadtschnittarzt beherrscht und wie geschätzt er in Zürich ist, unter anderem als Vermittler zwischen den gelehrten Kreisen und dem einfachen Volk. Sein Trostbüchlein, sein Lehrbuch zur Geburtshilfe, wird umfassend rezipiert.

Als Stadtschnittarzt deckt er ein breites chirurgisches Spektrum ab. Als steinschnider und bruchschnider ist er spezialisiert auf die Behandlung von Blasensteinen und Hoden- bzw. Leistenbrüchen – zwei Operationen, die heikel sind und bei wenig Erfahrung leicht daneben gehen können. Warum sind ausgerechnet diese zwei Eingriffe so wichtig? Aus heutiger Perspektive verwunderlich, doch im 16. Jahrhundert sind Blasensteine ein weit verbreitetes Leiden, da die Bevölkerung sehr viele Hülsenfrüchte isst und viel Bier sowie Wein trinkt. Beides fördert Harnsteine. Auch der Bruchschnitt, das heisst die Behandlung eines Leisten- und Hodenbruchs, ist eine der häufigsten chirurgischen Eingriffe, weil viele Menschen tagtäglich körperlich strapaziöse Arbeiten erledigen. Bei der hohen Nachfrage ist es üblich, dass in grösseren Städten wie Zürich ein Spezialist wie Jakob Ruf als Stadtschnittarzt angestellt ist. Er verdient einen städtischen Sold unter anderem dafür, dass er «Wundgschau»-Patient:innen behandelt. Reiche Privatpatient:innen stellen für ihn einen guten Zusatzerwerb dar. Wohlhabende Bürger:innen rufen den städtischen Schnittarzt zu sich oder suchen ihn in seiner Stube im Spital auf. Den Preis handelt man jeweils direkt aus. Als Kranke:r der unteren Schicht wie die arm Oberholtzerin ist dies unerschwinglich.

Situs-Darstellung aus Jakob Ruf: Trostbüchlein, 18r. Kritische Gesamtausgabe, Band 5.

Situs-Darstellung aus Jakob Ruf: Trostbüchlein, 18r. Kritische Gesamtausgabe, Band 5.

Missgeburten aus Jakob Ruf: Trostbüchlein, 79r. Kritische Gesamtausgabe, Band 5.

Missgeburten aus Jakob Ruf: Trostbüchlein, 79r. Kritische Gesamtausgabe, Band 5.

Medizinische Instrumente aus Jakob Ruf: Trostbüchlein. Kritische Gesamtausgabe, Band 5.

Medizinische Instrumente aus Jakob Ruf: Trostbüchlein. Kritische Gesamtausgabe, Band 5.

Im Rathaus vor die Gschauer getreten und mit dem Wundgschau-Zettel macht sich die arm Oberholtzerin also auf zum Heiliggeist-Spital, wo der Stadtschnittarzt Jakob Ruf seine Krankenstube hat.

Im Niederdorf erinnert noch heute die Spitalgasse an den einstigen Standort: nahe an den damaligen Stadtmauern und angrenzend an die Predigerkirche, befindet sich im 16. Jahrhundert das Spital – zwischen der heutigen Zentralbibliothek, der Niederdorfstrasse und der Spitalgasse. Das Heiliggeist-Spital ist das Zentrum der städtischen Krankenfürsorge. Es ist eine multifunktionale Institution, vielfältig im Einsatz wie ein Schweizer Sackmesser. Es beherbergt Gebärstuben, ist zudem eine Bleibe für Waisenkinder, Arme, die für Kost und Logie ihre Arbeitskraft verpfründen und bezahlende Pfründer, die sich im Heiliggeist-Spital eine Art Altersresidenz einrichten. Auf dem Areal findet sich auch der Mushafen, eine Armenspeisenanstalt, wo man täglich Brot, Suppe oder Mus austeilt. Der Andrang ist enorm. Es überrascht mich wenig zu lesen, dass das Spital überfüllt ist. Die Quellen zeigen Chaos und Unordnung.

Zürich 2023

Bei mir ist kein chirurgischer Eingriff nötig wie bei der arm Oberholtzerin – trotzdem werde ich ins Stadtspital Triemli weitergeleitet. Die Schweiz hat eines der besten Gesundheitssysteme im europäischen Vergleich: schnelle Beratung durch Spezialist:innen, hochwertige Versorgung und hohe Dichte an Leistungsbringer:innen. Allein in Zürich haben wir heute drei Stadtspitäler.

Das Stadtspital Waid

Stadtspital Zürich, Wikipedia

Stadtspital Zürich, Wikipedia

Das Stadtspital Triemli

Stadtspital Triemli, Wikipedia

Stadtspital Triemli, Wikipedia

Das Stadtspital an der Europaallee

Stadtspital Zürich Europaallee, Stadt Zürich

Stadtspital Zürich Europaallee, Stadt Zürich

Tatsächlich arbeitet jede zwölfte Person in der Schweiz im Gesundheitswesen: Die Branche ist die grösste Arbeitgeberin im Land. Im Jahr 2022 zählte das Stadtspital Zürich 4'238 Mitarbeiter:innen. Das sind fast so viele Menschen wie Zürich im 16. Jahrhundert Einwohner:innen hat.

Behandlungszahlen des Stadtspitals Triemli 2022

Behandlungszahlen des Stadtspitals Triemli 2022

Im Jahr 1534 und zu Wirkzeiten Jakob Rufs stehen vermutlich ein Dutzend Medizinalpersonen im städtischen Sold: der Stadtarzt Conrad Gessner zuoberst in der Hierarchie, der aber nach heutigen Standards eher Altphilologe als Humanmediziner ist; zwei Scherermeister, also der Stadtschnittarzt Jakob Ruf und ein Spitalarzt; etwa sechs Hebammen; zwei Apotheker und zusätzliches Spital-Pflegepersonal. Doch die Gesellschaftsstrukturen von damals sind vollkommen andere, ein direkter Vergleich ist schwierig. So gibt es zum Beispiel auch freiberufliche Scherermeister. Selbstbehandlung sind gang und gäbe; auf dem Markt findet man ansässige Heiler:innen, Kräuterweiber, und fahrende Heiler:innen, «Zahnbrecher» oder «Quacksalber».

Blasensteine und Leistenbrüche zählen längst nicht mehr zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen: Heutzutage sind es stattdessen Eingriffe am Muskel-Skelett-System und am Verdauungstrakt.

Das System am Limit

Die sukzessive Kostenexplosion

Aber dieses hochwertige Gesundheitssystem ist nicht nur am Anschlag, sondern hat auch seinen Preis: Direkt nach den USA gibt die Schweiz weltweit pro Kopf am meisten für Gesundheit aus. Berechnungen der ETH Zürich zufolge sind es 93 Milliarden im Jahr 2023. Die Kosten für die Versicherten sind in den letzten Jahren stetig gestiegen und die Teuerung wird sich 2024 erneut zuspitzen.

Ich bin in der privilegierten Lage, dass meine Eltern meine Krankenkassenprämie bezahlen, denn obwohl ich neben dem Studium arbeite, kann ich sie nicht selbstständig finanzieren. Bei einer tiefen Franchise, wie ich sie gesundheitsbedingt haben muss, belaufen sich die Kosten meiner monatlichen Prämie auf ungefähr Zweidrittel meines WG-Zimmers. Also etwa so viel wie ich monatlich für Lebensmittel-Einkäufe ausgebe. Zum Glück erhalte ich eine Prämienvergünstigung, die mich je nach Bestimmungen mit 100 oder 200 Franken im Monat entlastet. Doch wie oft ärgere ich mich über den bürokratischen Aufwand! Klicke mich durch Online-Formulare oder verliere vor lauter Briefen mit provisorischen Zahlen den Überblick, bis endlich der definitive Prämienanspruch feststeht.

Der Zeitplan für den Ablauf der Prämienverbilligung 2024

Der Zeitplan für den Ablauf der Prämienverbilligung 2024 findet sich auf der SVA Webseite

Für Personen mit niedrigem Einkommen aus weniger begünstigten sozio-ökonomischen Verhältnissen ist jedes Prozent Teuerung zu viel. Organisationen wie Caritas warnen vor Armutsfällen. Die Zukunftsdiagnosen sind erschreckend: Wird nicht gehandelt, ist bis 2040 eine Prämienerhöhung um 45 % zu erwarten laut einer Studie der Boston Consulting Group. Werden wir in Zukunft fast tausend Franken für unsere Krankenkasse hinblättern müssen? Und das bei Mietpreisen, die zukünftig die Hälfte des Einkommens fressen?

Brida von Castelberg

Im Gespräch mit der ehemaligen Chefärztin

Meine brennendste Frage: Warum explodieren die Kosten im Gesundheitswesen? Ich lese sowohl von Fehlanreizen als auch Inneffizienz im Gesundheitssystem, von gierigen Pharmaunternehmen und Lobbyismus in Bern. Ich möchte Antworten und treffe mich zu einem Gespräch mit Brida von Castelberg. Die Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe war fast zwanzig Jahre lang Chefärztin in der Frauenklinik des Stadtspitals Triemli. Mehrfach hat sie die Ökonomisierung der Medizin öffentlich kritisiert. Zur Beziehung zwischen Patient:innen und Ärzt:innen hat sie viel geschrieben und 2016/17 war sie Teil der Expert:innengruppe, die im Auftrag des Bundesrates Vorschläge zu Kostendämpfungen im Gesundheitswesen ausarbeitete.

Brida von Castelberg bei unserem Gespräch im Volkshaus, Zürich

Brida von Castelberg bei unserem Gespräch im Volkshaus, Zürich

Ich treffe sie an einem Donnerstagvormittag im Volkshaus in Zürich. Nachdem der Kellner Schwarztee gebracht hat, frage ich sie nach den Hauptgründen für die steigenden Kosten. Es gebe leider ganz viele Hauptgründe, erwidert sie und lacht kurz auf. «Jeder Kanton hat sozusagen sein eigenes Gesundheitswesen; jeder Kanton ist für sich und baut sein eigenes Spital und sein Zentrum. Aber jedes Spital hat auch Eigeninteressen.» Sie spielt auf die ominösen Fehlanreize an: Ein Spital müsse eine gewisse Zahl an Operationen erreichen, sonst dürfe es die entsprechenden Behandlungen nicht mehr durchführen. Ende Jahr sei dies bemerkbar, dann gebe es relativ schnell ein Telefon vom Direktor. Folglich kläre man mehr ab und wer mehr abkläre, finde auch mehr Behandlungsbedürftiges. Patient:innen seien leicht zu beeinflussen, auch wenn operative Behandlungen gar nicht unbedingt notwendig seien. Castelberg zeigt es an einem Beispiel: Ein siebzigjähriger Patient, der wegen Rückenschmerzen zum Arzt geht, sei nichts Ungewöhnliches. Doch statt sich Zeit zum Reden zu nehmen, werde in vielen Fällen viel zu schnell ein MRI gemacht. «Es ist viel einfacher, ein MRI zu machen und anschliessend kurz das Resultat anzuschauen, als sich Zeit zu nehmen für ein Gespräch und zu schauen, was die Bedürfnisse der Person sind.» Wieso aber nicht zuerst eine Physiotherapie machen? Ein MRI habe Folgen für Diagnose und Behandlung bei einem Patienten im fortgeschrittenen Alter. Da finde man immer etwas, betont Brida von Castelberg. Das seien gängige Mechanismen, wo eben Geldverdienen im Vordergrund stehe und nicht das Wohl der Patient:innen.

Als weiteren Grund für die Teuerung resümiert Castelberg: «Patienten werden zu Konsumenten.» Prämienzahler:innen möchten auch etwas haben für ihr Geld. Man ginge öfter zum Arzt. Der Weg führe häufig direkt zu Spezialist:innen, dank Dr. Google wisse man ja, was man habe. Fürs Gesundheitssystem käme es günstiger zuerst Hausärzt:innen zu konsultieren. Doch leider gebe es immer weniger davon und oft falle Wartezeit an.

«Es gibt ausserdem zu viele Kassen mit grossem administrativem Überbau und unglaublicher Werbemaschinerie», fährt Castelberg fort. Vier bis fünf Kassen würden ausreichen. Und nicht zuletzt: «Praktisch jedes Spital hat ein eigenes IT-System.» Dies bringe Ineffizienz mit sich. Überhaupt frässe die Bürokratie wichtige Arbeitszeit, die Pflegepersonal und Ärzt:innen viel besser einsetzen könnten. Die Lage in den Spitälern sei wegen des Fachkräftemangels ohnehin angespannt. «Je grösser der Mangel ist, desto mehr verleidet die Arbeit auch denen, die geblieben sind. Und statt dass sie ihre Arbeit machen können, müssen sie am Computer sitzen und eintippen, wann sie den Patienten zum Klo begleitet haben.» Doch so fordern es Versicherungen und Kantone.

«Dabei sind die Lösungen längst auf dem Tisch, aber es wehren sich alle mit Partikularinteressen, Kantone, Kassen, Lobbyisten und so weiter!»
Brida von Castelberg

Brida von Castelbergs Gestik wird kraftvoll. Sie finde es frustrierend. Die 38 Massnahmen der Expert:innengruppe von 2016/17 sind online einsehbar. Castelberg streicht drei Massnahmen heraus: die IT-Systeme schweizweit vereinheitlichen, ambulante und stationäre Leistungen einheitlich finanzieren und sogenannte Gesundheitsregionen definieren. «Schon lange ist der Vorschlag bekannt, dass man in der Schweiz fünf bis sechs überkantonale Gesundheitsregionen bestimmt, die je ein Zentrumspital, kleinere Spitäler und Ambulatorien haben.» Eine Zusammenarbeit stelle für alle einen Gewinn dar. Im Kanton Zürich gäbe es fünf Neonatologien (Intensivstationen für Neugeborene). Das sei oberteuer und so viele an der Zahl würden schlicht nicht gebraucht. «Das ist alles nur Renommee», findet die ehemalige Chefärztin.

Auf meine Frage, ob sie eine Prämienerhöhung von 45% bis 2040 als realistisch einschätze, sagt sie ganz direkt: «Ich glaube, bis dahin müsste man zuerst mal streiken. Das wäre schon längst mein Vorschlag, dass Prämienzahler das Geld auf ein Sperrkonto legen und dies erst an die Kassen auszahlen, wenn gewisse Massnahmen endlich erfüllt sind. Das Gesundheitswesen gehört niemand anderem als den Patienten bzw. den Steuerzahlern!» Aktuell jedoch bezahlen Schweizer Steuerzahler:innen vierfach, über die Franchise, den Selbstbehalt, die Krankenkassen und die Steuern.

Ich bin beeindruckt von Brida von Castelbergs unermüdlichem Engagement. Gerade arbeitet sie an einem Pilotprojekt, das die aufwändigen Büroarbeiten für Spitalmitarbeiter:innen radikal minimieren will. Als das niederländische Buurtzorg-Modell, das Pflege auf Basis der Selbstorganisation und flacher Hierarchien anbietet, vor einigen Jahren auch in der Schweiz Fuss fassen will, beteiligt sich Castelberg ebenfalls (Verein Curare). Ausserdem ruft sie 2017 als Vorstandmitglied der Akademie Menschenmedizin das Café Med ins Leben. Medizinische Fachleute bieten in sieben Schweizer Städten und neu auch im Südtirol kostenlose Beratung an. «Diejenigen, die im Café Med Rat suchen, haben meistens nicht genug Zeit gehabt, um wirklich rauszufinden, was sie haben und wurden schon gar nicht über Alternativen und Optionen aufgeklärt. Das geht Zack, Zack, Zack – das ist die Diagnose, man nickt, obwohl man eigentlich nicht so richtig verstanden hat, aber man spürt den Zeitdruck.»

Die Tauben sitzen aufgereiht auf den Stromkabeln beim Helvetiaplatz, als ich mich bei Brida von Castelberg für unser Gespräch bedanke und mich verabschiede. Das Thema bleibt komplex. Einen Tag später sitze ich im Wartezimmer des Stadtspital Triemli. In der Ecke steht eine Monstera. Es vergehen keine fünf Minuten und mein Name wird aufgerufen.

Dank & Literaturangaben

Merci!

Ich möchte mich ganz herzlich bei allen bedanken, die mich unterstützt haben:

Liebe Brida, vielen Dank für deine Zeit, das spannende Gespräch und dein Engagement!

Liebe Hildegard, mein spezieller Dank geht an dich, danke für deinen Rat, deinen Ideenreichtum und die Zusammenarbeit!

Lieber Patrick und liebe Leandra, vielen Dank für den Austausch und das Korrekturlesen!

Literaturangaben

Adrian Eng: Schweizer Gesundheits­kosten steigen stark an – was das für die Prämien 2024 bedeutet, in: Tagesanzeiger. URL: https://www.tagesanzeiger.ch/schweizer-gesundheitskosten-steigen-stark-an-schlechte-aussichten-fuer-krankenkassenpraemien-256092357499.

Aline Steinbrecher: Das Zürcher Spital in der Frühen Neuzeit zwischen "Hurhaus" und Strafanstalt, in: Gesnerus : Swiss Journal of the history of medicine and sciences 58 (2001), S. 284-91. URL: https://doi.org/10.5169/seals-521446.

Baugeschichtliches Archiv, in: Stadt Zürich Hochbaudepartement. URL: https://www.stadt-zuerich.ch/baugeschichtliches_archiv.secure.html.

Das amm Café Med in Zürich, in: akademie menschen medizin. Für ein menschengerechtes Gesundheitswesen. URL: https://www.menschenmedizin.ch/aktivitaeten/amm-cafe-med/amm-café-med-zürich/.

Die Krankenkassenprämien steigen 2024 um 8.7 Prozent, in: SRF Liveticker. URL:https://www.srf.ch/news/schweiz/teures-gesundheitswesen-die-krankenkassenpraemien-steigen-2024-um-8-7-prozent.

Dominik Balmer und Patrick Meier: Bei diesen Krankheiten steigen die Kosten am stärksten, in: Tagesanzeiger. URL: https://www.tagesanzeiger.ch/bei-diesen-krankheiten-steigen-die-kosten-am-staerksten-625155206982.

Hildegard Keller: Jakob Ruf - wer er (nicht) war, in: Hildegard Keller. URL: https://www.hildegardkeller.ch/jakob-ruf-wer-er-nicht-war/.

Hildegard E. Keller (Hrsg.): Mit der Arbeit seiner Hände. Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermachers Jakob Ruf (1505-1558). Zürich 2008 (= Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien 1).

Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien. Fünf Bände mit 2 CD-ROM. Herausgegeben von Hildegard E. Keller in Verbindung mit Linus Hunkeler, Andrea Kauer, Clemens Müller, Seline Schellenberg Wessendorf, Stefan Schöbi, Hubert Steinke und Anja Buckenberger. Zürich: NZZ Libro 2008 / Edition Maulhelden 2022.

Luis von Guten: Die Gesundheitskosten könnten sich bis 2040 verdoppeln, in: SRF. URL: https://www.srf.ch/news/wirtschaft/studie-zu-qualitaet-und-kosten-die-gesundheitskosten-koennten-sich-bis-2040-verdoppeln#:~:text=Wie%20sieht%20die%20zukünftige%20Entwicklung,90%20Prozent%20mehr%20als%20heute.

Patient/innen, Hospitalisierungen, in: Bundesamt für Statistik. URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitswesen/spitaeler/patienten-hospitalisierungen.html#:~:text=Die%20häufigsten%20chirurgischen%20Eingriffe%20waren,Skelett%2DSystem%20und%20am%20Verdauungstrakt.

Paul Baumgartner und Beat Rüttimann: Texte zur Zürcher Wundgschau von 1534 bis 1654. Dietikon: Juris Druck + Verl., 1997.

Philipp Albrecht, Priscilla Imboden, Marie-José Kolly (Text) und Pieter Van Eenoge (Illustration): Warum die Gesundheits­kosten ausser Kontrolle sind, in: Republik. URL: https://www.republik.ch/2023/09/26/warum-die-gesundheitskosten-ausser-kontrolle-sind.

Prämienverbilligung 2024. Ablauf und Zeitplan, in: SVA Zürich. URL: https://svazurich.ch/ihr-anliegen/privatpersonen/praemienverbilligung/praemienverbilligung_2024/ablauf.html.

Stadtspital Zürich, in: Wikipedia. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtspital_Zürich

Stadtspital Triemli, in: Wikipedia. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtspital_Triemli

Stadtspital Zürich Europaallee, in: Stadtspital Zürich. URL: https://www.stadt-zuerich.ch/site/europaallee/de/index.html