Baden
Eine Kur im Wasser

Ein Sommer in Zürich
Es ist heiss. Die Badi ist gut besucht. Spielende Kinder, Vogelgezwitscher, das Patschen nasser Badelatschen auf dem Beton. Das kleine Wunder am Wochenende. Im Hintergrund lauert der anstehende Montag. Auch ich bin ein Kind meiner Zeit: Wir pochen auf Work-Life-Balance und zeigen auf die steigenden Burnout-Fälle. Ich stelle mir vor, wie es früher für meine Vorfahren gewesen sein muss. Ihre Arbeitstage waren länger, die Arbeit oft körperlich hart. Konnten sie sich nach einer mühseligen Arbeitswoche erholen? Vergnügten sie sich auch im Wasser? Oder diente das Baden einem ganz anderen Zweck? Dieser Frage möchte ich nachgehen.

Wasser gab es in der Schweiz schon immer genug, heute sind es rund 1480 Seen (die grösseren Teiche habe ich nicht dazugezählt). Wie überall auf der Welt nutzten auch die Schweizer ihre Gewässer mit pragmatischer Fantasie. Zum Fischen, zur Bewässerung, zur Fortbewegung und Entspannung. Ich denke an die Thermengasse im Niederdorf. An ihrer Stelle standen einst römische Thermen. Dort haben Reisende gebadet, die nach langer Schifffahrt Erholung suchten. Das war angenehm, die Thermen lagen nämlich häufig direkt auf dem Weg.

Baden abseits des Wegs
Im Mittelalter entdeckten Menschen eine Thermalquelle, die alles andere als auf dem Weg lag: das Alte Bad Pfäfers in Bad Ragaz. Wenn Personen im 13. Jahrhundert dort ein Bad nehmen wollten, mussten sie sich mit Seilen in die Taminaschlucht abseilen lassen. Damit sie sich nicht zu sehr fürchteten, verband man ihnen die Augen. Was für eine grässliche Vorstellung! Was war denn am heissen Wasser so toll, dass man diese Tortur auf sich nahm?


Heilsam
Die Antwort finde ich in der Zentralbibliothek Zürich. Dort befindet sich eine Reklame für das Bad Pfäfers des Arztes Paracelsus (* 1493/94, † 1541). Er beschrieb 1535 die Heilwirkung des Thermalwassers in Bad Ragaz. Ein kranker Körper sei oft zu schwach, um sich selbst zu kurieren. Das Thermalwasser könne den Körper dabei unterstützen.
Am Ragazer Wasser, so Paracelsus, sei seine natürliche Wärme heilsam. Er war der Ansicht, dass sich die «Sunnen wermy» (Sonnenwärme) von der «hitz des mists» (tierische Exkremente) oder der des «führs» (Feuer) unterscheide. Die «natürliche[] wermy» des Bades Pfäfers mass er dabei die heilsamste Wirkung aller Wärmequellen zu.
Auch der berühmte Zürcher Stadtarzt Conrad Gessner (* 1516, † 1565) war einst in Bad Ragaz, um das von Paracelsus gelobte Wasser zu untersuchen. Er prüfte Temperatur, Geruch, Farbe, Geschmack und Goldgehalt, letzteres ohne Befund, und stimmte Paracelsus’ Empfehlungen zu: Das Thermalwasser, so Paracelsus, kuriere unter anderem «muede[] glider[]», «diabetica», «frouwen in allen kranckheiten», «Jucken / Rud / Schuoppen», «übelgeheilte[] beinbrüche[]» oder «erfrorne glider». Gessner übersetzte die Schrift von Paracelsus wohl auch deshalb ins Latein. Denn das war die Sprache des exklusiven Kreises, dem Gessner angehörte: der europäischen Gelehrten.

Man begab sich ins Alte Bad Pfäfers, um Krankheiten auszukurieren. Viele schätzten aber auch das gesellschaftliche Leben. Wie handfest die Genüsse gewesen sein müssen, zeigt die Badeordnung von 1568. Dass Schwerter und Faustschläge nicht erlaubt waren, scheint mir plausibel, auch dass man weder ins Wasser kotzen noch urinieren sollte. Was mich erstaunt, sind aber die vielen Warnungen vor Unzucht. Offenbar hatte man ein Bewusstsein von sexual harassment, hier von Frauen durch Männer.

«Da oftmals Frauen sich beklagen, dass sie von Männern in der Enge des Bades unzüchtig betastet werden […], legen wir fest, dass […] Männer und Frauen […] getrennt baden sollen.»
«Ebenso ist es nicht erlaubt, sich im Bad zu entblössen oder durch ähnliche unzüchtige Handlungen unverschämt zu werden […].»
Übers. aus dem Lat. von Pius Kaufmann, S. 411.

Ein neues Badeshaus
1627 ereignete sich dann ein Unheil. Das Gasthaus in der Taminaschlucht wurde von Eis- und Felstrümmern beschädigt. Der Abt von Pfäfers beschloss nun, das Thermalwasser durch einen gedeckten Kanal aus der Schlucht herauszuleiten, direkt ins neue Badehaus, das er um 1630 am Ausgang der Schlucht bauen liess. Es ist das Badehaus, das heute noch steht.





Alte Kur in neuen Wannen
Wenn auch die Badewannen neu waren, so blieben doch die Behandlungsansätze dieselben. Stellt euch vor, dass die Kurgäste pro Tag bis zu 10 Stunden im Bad verweilten, für durchschnittlich 28 Tage. Für mich klingt das ganz und gar nicht erholsam, ganz zu schweigen von gesund. Die Haut begann bei vielen Gästen mit der Zeit zu eitern. ‘Hautfresser’ nannte man das.
Auch Trinkkuren waren populär. Fünfzehn bis zwanzig Liter Thermalwasser trank ein Badegast pro Tag. Bei den Kurgästen führte ein so hoher Wasserkonsum zu starken Nebenwirkungen. Nicht aus Zufall trägt der Brunnen in Bad Schwalbach den Beinamen ‘Furzbrunnen’. In Leukerbad sprach man von ‘Kotzquellen’.


Zu Gast in Bad Pfäfers
Um 1833 steht das Bad Pfäfers in seiner grössten Blüte. Das Trink- und Badeprozedere gilt nun als überholt. Kurgäste verbringen nur noch ein bis zwei Stunden am Tag im Thermalwasser. Zudem werden nie mehr als drei Liter davon pro Tag getrunken. 200 bis 300 Gäste gehen täglich im Bad ein und aus. Viele davon nehmen auch ihre Mahlzeiten im Bad zu sich. Man spaziert in den Gängen des Gebäudes. Das Bad ist ein Ort gesellschaftlichen Austauschs. Krämer verkaufen Kleinigkeiten, das Kurleben ist unbeschwert. Ab 1840 wird das Wasser bis hinunter nach Ragaz geleitet, wo im Hof Ragaz auch etwas für gehobene Gäste geboten wird. Zu ihnen gehören bedeutende Persönlichkeiten, von denen einer die Quelle besingt:
Apropros: Heute kann man ganz im Sinne Rilkes eine 'herrliche' Wanderung zum Alten Bad Pfäfers unternehmen!
Rainer Maria Rilke
Die Wasser von Ragaz
Welcher gelegene Ort: sich an den Quellen begegnen,
die eine irdische Kraft wärmt auf den nämlichen Grad
unseres eigenen Bluts. Kann man deutlicher segnen,
als es hier die Natur, die überströmende, tat?
Oft scheint sie feindlich und fremd, ganz in sich selber beschäftigt,
lässt sie uns gleichsam geschehn zwischen Unruh und Ruh;
doch wie ergänzt sie uns schön, wenn sie uns einmal bekräftigt:
rein, aus der Tiefe hervor, stimmt sie uns Zögernden zu.»

Baden in Baden
Nach meiner Recherche übers Baden ist mir selbst nach einer Badekur. Ich schnappe mir eine Freundin, wir fahren nach Baden. Dort gibt es Brunnen, die täglich von frischem Thermalwasser mit einer Temperatur zwischen 37°C bis 43°C gespeist werden. Es ist kalt, als wir beim Badebrunnen ankommen. Immer wieder regnet es für eine kurze Zeit, aber wir überwinden uns. Kaum steigen wir ins warme Nass, sagt meine Begleitung: «Ich hatte es mir nicht so schön vorgestellt». Das grosse Plus: Die Thermalwasserbrunnen eignen sich auch für ein schlankes Portemonnaie, wie wir erholungsbedürftigen Studierenden es häufig haben. Das eingesparte Geld haben wir in ein feines Essen investiert.

Dank
Liebe Hildegard, ich danke dir für dein Engagement, deine Tatkraft und deine inspirierenden Hilfestellungen. Durch deine Unterstützung durfte ich eine neue und wunderbare Art des Schreibens, Gestaltens und Publizierens kennenlernen.
Lieber Oscar, ich danke dir für deine Gedanken, Anregungen und Korrekturen. Du hat meine Arbeit unermüdlich immer wieder gegengelesen und mich damit bei meinem Schaffensprozess tatkräftig unterstützt.
Quellen und Literatur
Anderes, Bernhard: Bad Pfäfers. Vom Wildbad zum Kulturdenkmal, in: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (Hg.): Unsere Kunstdenkmäler: Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 29 (4), 1978, S. 484-484.
Gantenbein, Urs Leo: Der Weg nach Pfäfers: Paracelsus bei Abt Johann Jakob Russinger, in: Freunde des Alten Bades Pfäfers (Hg.): Paracelsus und Bad Pfäfers, Mels 2022, S. 71-79.
Hermann, Sabine: Zur Badekultur in der Renaissance, in: Freunde des Alten Bades Pfäfers (Hg.): Paracelsus und Bad Pfäfers, Mels 2022.
Kaufmann, Pius: Gesellschaft im Bad. Die Entwicklung der Badefahrten und der Naturbäder im Gebiet der Schweiz und im angrenzenden südwestdeutschen Raum (1300-1610), Zürich 2009.
Lersch, Bernhard: Geschichte der Balneologie, Hydoposie und Pegologie oder des Gebrauches des Wassers zur religiösen, diätischen und medicinischen Zwecken, Würzburg 1863.
Milt, Bernhard: Gesnerus, in: Vierteljahresschrift für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 2 (1), 1945, S. 1-16.
Paracelsus: Vonn dem Bad Pfeffers in Oberschwytz gelegen Tugenden, Krefften unnd Würckung, Ursprung und Herkommen, Regiment und Ordinantz, Zürich 1535.
Rilke, Rainer Maria: Gedichte, in: Rilke-Archiv (Hg.): Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987.
Stiftung Altes Bad Pfäfers: Audiowalk Altes Bad Pfäfers, www.altes-bad-pfaefers.ch/audiowalk, Datum des Zugriffs 13.10.2023.