Ein Stück Heimat

Alles beginnt bei einem Stadtrundgang der besonderen Art. Nicolas, der Stadtführer von Surprise, führt mich durch die Zürcher Altstadt und erzählt von seinem früheren Leben. Er war obdachlos, psychisch krank und lebte am Rand der Gesellschaft. Nach sechzehn Jahren auf der Strasse fand er eine Heimat.
Dort, an der Geigergasse 5, endet unser Rundgang. Bevor wir eintreten, zeigt Nicolas auf die Skulptur über dem Eingang: Ein ausgestreckter Zeigefinger. Im denkmalgeschützten Haus finden fünfzig Männer mit schwerem Lebensrucksack eine neue Heimat. Ich besuche sie und begebe mich auf eine persönliche Entdeckungsreise durch die Geschichten der Herberge.
Ein Leben wie im Roman
Über Rolands Leben könnte ich einen Roman schreiben. «Einen 12-Bände-Roman sogar», schmunzelt der 71-Jährige. Der «Grooftie» lacht verschmitzt: «Man sollte nicht immer alles so persönlich nehmen». Seit Februar 2024 lebt er in der Herberge, obwohl Roland ein Haus in Spanien besitzt. Ende 2023 ist er in die Schweiz zurückgekehrt, um den «70er-Service» zu machen – einen medizinischen Check, der alle zehn Jahre notwendig ist. Seit zwei Jahren hat er Polyneuropathie, eine schmerzhafte Entzündung in den Fussnerven, die zu Gleichgewichtsproblemen führt. Er erzählt von früher: Seine Informatikfirma forderte «24 Stunden am Tag», weshalb er jahrelang mit Herzproblemen zu kämpfen hatte. Roland führte ein bürgerliches Leben. Stolz erzählt er von seiner beruflichen Selbstständigkeit. Nach einem plötzlichen Zusammenbruch in der Schweiz, später als Hirnschlag diagnostiziert, wurde er von der Polizei in eine Notschlafstelle gebracht. Kurz darauf, im Februar 2024, ist er ins Männerheim eingezogen. Aufgrund seiner Fussschmerzen kann er nicht nach Spanien zurück. Im Leben könne alles passieren, meint er. Die Gesundheit sei nicht planbar und das Leben nehme plötzlich eine unerwartete Wendung. Wenn die Schmerzen nicht besser werden, muss er seinen Traum in Spanien streichen, «ersatzlos». Doch es überrascht Roland nicht, dass er gesundheitliche Probleme hat: «Ich habe so intensiv gelebt, ich bin nicht erstaunt.» Man dürfe einfach nicht aufgeben im Leben. Nie.
Das Männerheim ist für Roland eine Übergangslösung. «Kopf runter und durch». Seine Schmerzen würden ihn beeinträchtigen, und allgemein sei in der Herberge zu wenig los. Er verfaule, gesteht Roland. Zudem fühle er sich kontrolliert, überwacht, bemuttert. «Die tägliche Anwesenheitskontrolle ist ein Eingriff in meine Privatsphäre». Für seine Verhältnisse ist das Haus mit fünf Stockwerken zu eng. Je weiter oben, desto ruhiger, erklärt Roland, «und die Komischen sind weiter unten». Er führt mich in sein ruhiges Dachstockzimmer im fünften Stock: klein, minimalistisch, nur das Nötigste. Trotzdem ist er froh, ein eigenes Zimmer zu haben, das er in seiner Notlage dringend braucht. Roland weiht mich in die Geschichten des Hauses ein, in die Geheimnisse seiner Zimmernachbarn und Erzählungen der Bewohner. Den Humor hat er in dieser schwierigen Zeit nicht verloren. Das Leben sollte nicht so ernst genommen werden, wiederholt er. Der Name der Herberge sei übrigens gut gewählt, bemerkt Roland zum Schluss, denn es gäbe Menschen, die hier tatsächlich eine neue Heimat finden. Er selbst gehört nicht dazu – zumindest nicht für immer.


Halt, Hoffnung, Heimat

Im Jahr 1866 wurde die Herberge zur Heimat im Augustinerhof in Zürich eröffnet. Damals war sie im Besitz eines Jünglingsvereins. Einunddreissig Jahre später, 1897, ging sie an die Stiftung der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich über. Handwerksgesellen und Handelsburschen auf Wanderschaft flüchteten in dieses Gasthaus und fanden ein temporäres Zuhause – ein Nest während ihrer beschwerlichen Wanderjahre also. Heute bewohnen Männer in schwierigen Lebenssituationen das Geigerhaus. Menschen, die in ihrem Leben alles verloren haben, durch Schicksalsschläge aus der Lebensbahn geworfen, und sich nun von ihrer Lebenswanderung erholen. Menschen, die sich nach Halt, Hoffnung und Heimat sehnen.
Erst im Jahr 2015, im Zusammenhang mit der IV-Anerkennung, wurde das Männerheim offiziell bewilligt. Vorurteile seien ein Thema, meint Maurus Wirz, seit sechzehn Jahren Leiter der Herberge zur Heimat. Sobald Beschwerden über Lärm oder Müll aufkommen, richtet sich der Blick auf die Institution, obwohl sie deutlich länger besteht als alle «Lädeli» rundherum. Die mangelnde Intimsphäre und die permanente Geräuschkulisse der Zürcher Gassen stellen für die Bewohner eine Belastung dar. Auch der Verkehr, die Baustellen und das Getöse der Stadt machen vielen zu schaffen. Dafür ist es auf der Dachterrasse ruhig. Mit Blick auf Zürich wachsen Kräuter für die Küche.
Die Herberge mit ihren 27 Einzelzimmern und elf Doppelzimmern ist normalerweise bis auf den letzten Platz belegt. «Es funktioniert, aber manchmal ist es eine Kunst, wie man es zum Funktionieren bringt», gesteht Maurus. Ursprünglich als Sprungbrett für die Reintegration gedacht, bleibt die Herberge für viele jahrelang ein Zuhause. Wer aus einer sozialen Institution kommt, trägt die Vergangenheit wie eine Last mit sich: Lücken im Lebenslauf, Schulden und IV-Renten. Entsprechend klein sind die Chancen auf dem freien Wohnungsmarkt. Der langjährigste Bewohner wohnt seit sechzehn Jahren dort. Einst fand sogar ein Bewohner über drei Jahrzehnte Zuflucht im Männerheim, bis zu seinem Lebensende. Eine Stütze für jene in Not – ein Ort also, der eine Konstante in turbulenten Lebensphasen bietet.
Rudys Trüffelfarmen
In Indien leiden Millionen an schlechter Luft- und Wasserqualität, die Region kämpft seit Jahrzehnten mit zunehmendem Smog. Doch Rudy ist überzeugt: Eine Zucht von Trüffelpflanzen und die Errichtung von Farmen könnten die Bevölkerung von der Smog-Krise retten – und Indien von schlechter Luft und dreckigem Wasser befreien. Er kennt also die Lösung: Trüffelpflanzen. Auch in Israel möchte er längerfristig eine Trüffelfarm aufbauen. Dafür hat er eine eigene Methode entwickelt. Gemeinsam mit einer Inderin, die er im Tram kennenlernte, möchte er sein Projekt bald verwirklichen. Darin liegt seine ganze Hoffnung.
Dreissig Jahre verbrachte Rudy in Amerika und leitete eine erfolgreiche «Printing Company». Später zog es ihn für zwölf Jahre nach Israel. Während eines Aufenthalts in der Schweiz im Jahr 2006 nahm sein Leben wegen eines schweren Autounfalls eine Wende – die Rückkehr nach Israel wurde unmöglich. Erst als die Rückenschmerzen unerträglich wurden, operierte man ihn. Zeitgleich hat er seine Wohnung in der Schweiz verloren und Rudy wurde Opfer von Versicherungsbetrug. Auch sein Erbe wurde nie ausgezahlt: «Alles habe ich verloren». Seine Cousine hat ihn schliesslich in die Herberge begleitet. Hier lebt er jetzt seit fast neun Jahren.
Der 71-Jährige wünscht sich eines: eine eigene Wohnung, selbstständig sein, einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen, «essen und trinken, was ich möchte». Doch dafür braucht er Geld. Momentan bleibt ihm «keine andere Wahl» – die Herberge ist sein Zuhause. Rudy hat eine langjährige Partnerin in Israel. Sie stehe zu ihm und seinem Projekt, betont er stolz, die Beziehung gebe ihm Kraft. Täglich sind sie über WhatsApp in Kontakt. Gerne würde sie in die Schweiz kommen, aber auch dafür fehlt das Geld. Doch Rudy weiss: Haben sich die Trüffelfarmen erst einmal ausgezahlt, wird er Geld verdienen. Rudys Worte der Sehnsucht zeugen von seiner tiefen Hoffnung – endlich ins Leben zurückzufinden.


Zeigefinger für Zürich

Geigergasse 1946, BAZ
Geigergasse 1946, BAZ
Das Männerheim zwischen Modeboutiquen, Kunstgalerien, Restaurants und Bars reiht sich unauffällig in die Altstadthäuser ein. Nur eine Fassadenskulptur über dem Hauseingang, ein in den Himmel ragender Zeigefinger aus Beton, deutet darauf hin, dass sich hier eine soziale Einrichtung befindet.
Vom Pfarrer wird der Zeigefinger in ein Symbol der christlichen Nächstenliebe übersetzt – als Zeigefinger Gottes. Der steinerne Wächter oberhalb des Hauseingangs ist relativ neu. Eine Fotografie aus dem Jahr 1946 zeigt das Haus nur mit dem Schild: «Alkoholfreies Gasthaus Heimat». Der Zeigefinger war damals noch nicht da – die Heimat schon.
Anzünderli

Jeden Nachmittag steigen die Männer ins Tram 4 ein und an der Haltestelle «Quellenstrasse» aus. Heute begleite ich sie. In der Regel arbeiten sechs bis acht Männer in der externen Werkstatt. Ein Zimmer mit Tischen, Stühlen und einer Kaffeemaschine dient als Kreativatelier. Alles wirkt eingespielt, jeder weiss, was zu tun ist.
Um 14 Uhr beginnt die Arbeitsschicht, um halb drei gibt es eine fünfminütige Pause, um 14.50 ist die Arbeit beendet. Passend zur Jahreszeit werden hier aus Restholz «Anzünderli» hergestellt. Das Holz wird gespaltet, aussortiert und anschliessend mit einem Dolch in eine zugeschnittene WC-Rolle gefüllt. Die schlecht gespaltenen, «schwangeren Hölzer», müssen einzeln aussortiert werden. Nur die schönen Hölzli werden weiterverarbeitet, erklärt mir einer der Männer, der seit zwei Jahren im Atelier arbeitet.

Die Bewohner verdienen acht Franken für jeden Arbeitseinsatz, entspricht einem vollen Monatslohn von 160 Franken. Für die meisten ist die freiwillige Arbeit eine willkommene Ablenkung. Ich sitze am Tisch und unterhalte mich. Nicht alle erledigen die Arbeit sorgfältig genug, viele würden «ein Puff» hinterlassen, bekomme ich zu hören. Das Aussortieren beginnt von vorne, aufregen dürfe man sich nicht.
Wir reden über Wohnungen und die hohen Preise. Eine zahlbare Wohnung in Zürich zu finden ist nahezu unmöglich. Meist werden Familien oder verheiratete Paare bevorzugt. Zudem verleitet Bequemlichkeit dazu, in der Herberge zu bleiben. Es wird zur Gewohnheit – und die Herberge zum jahrelangen Zuhause.

Warum ich
hier bin

Ich werde plötzlich von einem der Männer gefragt, ob ich die sei, die Interviews führt. Warum er in der Herberge lebe, sei eine lange Geschichte. Darüber erzählen möchte er mir lieber nicht.
Seine Worte bringen mich zum Nachdenken. Warum bin ich eigentlich hier? Bestimmt nicht, um meinen Zeigefinger zu erheben. Mich unterhalten, das ist mein Ziel. Gespräche führen über das Leben und die alltäglichen Schieflagen. Aber auch um Anteil zu nehmen und menschliche Lebenswelten zu verstehen. Und um individuelle Stimmen sprechen zu lassen, die ihre Geschichte erzählen, die von weit mehr handeln als vom prekären Leben.

Vorurteile existieren nicht nur bei den umliegenden «Lädeli», sondern auch in unseren Köpfen. Wir alle denken in Schubladen, in die wir die Welt versorgen. Der Mensch am Rand schrumpft auf seine Rolle: Alkoholiker, Dropout, einer, der mit dem Leben nicht zurechtkommt. Vorurteile trennen uns von «den anderen». Dabei haben wir so viel gemeinsam. Zum Beispiel, dass wir verwundbar sind und auf die Schattenseite des Lebens abdriften können. Und wir haben unverschämtes Glück, wenn wir irgendwie davonkommen. Ein Unfall, Jobverlust, der Tod eines geliebten Menschen, Sucht, psychische Probleme – die Liste lässt sich weiterführen. Eine Biografie kann brüchig werden. Das nehme ich mit: Wie verletzlich wir sind, was Heimat bedeutet und wo eigentlich meine ist.

Dank
An dieser Stelle möchte ich mich bei einigen Menschen bedanken, die mich auf meiner Reise des Schreibens begleitet haben.
Von Herzen danke ich Roland und Rudy, die mir ihre bewegten Geschichten anvertraut haben. Danke für eure Aufrichtigkeit und Offenheit, die es mir ermöglichten, hinter die Kulissen der Herberge zu blicken. In diesem Zusammenhang gilt mein Dank auch dem Leiter der Herberge, Maurus Wirz, der mich von Anfang an mit offenen Armen empfangen hat. Danke für deine Unterstützung und Wertschätzung!
Darüber hinaus möchte ich mich bei Hildegard Keller bedanken, die mir die Freude am Schreiben vor Augen geführt hat. Dein grosses Engagement, deine Herzlichkeit und menschliche Nähe haben mich sehr berührt!
Zu guter Letzt bedanke ich mich bei Joel Schriber, dem besten Redaktionspartner, den ich mir hätte wünschen können. Die unkomplizierte Zusammenarbeit mit dir macht einfach Spass!
Quellen
Herberge zur Heimat (2024). https://herberge-zh.ch/. Datum des Zugriffs:10.12.2024.
BAZ, Geigergasse 1946, Fotografie von Schweiz. Lichtbildanstalt (1946). https://baz.e-pics.ethz.ch/#main-search-text=geigergasse&main-search-mode=and&detail-asset=c202356e-c086-4e53-a71f-1601535edce7. Datum des Zugriffs: 10.12.2024.
Alle Fotos ohne Bildunterschrift von der Autorin, Anna Schwaller.
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SRF Club, Armut in der reichen Schweiz (2024).