Frau Minne an der Brunngasse 8

Auf den Spuren einer starken Jüdin

Ich heisse Mirjam und bin gebürtige Adliswilerin, lebe heute aber in der Stadt Zürich. Wer hier lebt, sollte die Geschichte der Stadt kennen, finde ich. Wie lebten beispielsweise die jüdischen Zürcher im 14. Jahrhundert? So mache ich mich auf den Weg, die Wurzeln der Kultur, aus der mein Name stammt, zu ergründen.

Begeben wir uns hierfür in das mittelalterliche Zürich. Insbesondere auf die Spuren Frau Minnes, der Matriarchin einer einflussreichen jüdischen Familie.

(Foto: Stadtvedute von Hans Leu d. Ä., Schweizerisches Nationalmuseum)

Zürcher Niederdorf, Brunngasse 8. Dieses Haus wurde im 14. Jahrhundert von Frau Minnes Familie, den Menachems, bewohnt. Diese gaben bedeutende Wandmalereien in Auftrag (Böhmer 2002, 229).

Die Malereien wurden um 1330 in der Brunngasse 8 angebracht. Sie dienten der repräsentativen Verzierung des Saals im ersten Stock. Wild/Böhmer nehmen an, dass Christen in diesen Saal eingeladen wurden, dass darin aber auch grossfamiliäre Anlässe oder sogar religiöse Feierlichkeiten der damaligen jüdischen Gemeinde Zürichs stattfanden (15f.).

Insgesamt sind nur noch etwa 20 Prozent der ursprünglichen Wandbemalungen erkennbar (Böhmer 2000, 34). Ich möchte erfahren, welche Geschichte diese Fragmente erzählen...

Ich betrete die Brunngasse 8.

Im Haus begrüsst mich die liebenswürdige, fast 100-jährige Silvana Lattmann. Sie gewährt Interessierten immer wieder Zutritt zu ihrer Wohnung.

Während ein Teil der Malereien im Treppenhaus des Hauses zu finden ist, sind weitere Ausmalungen in Silvanas Wohnung anzutreffen.

Silvana Lattmanns Wohnzimmer mit einem Teil der Malereien

Silvana Lattmanns Wohnzimmer mit einem Teil der Malereien

Ich nehme einige Malereien unter die Lupe:

Die wichtigsten Spuren finden sich unterhalb der Wappen: Dort wurden beim Malen hebräische Bildunterschriften als Platzmarken zur Lokalisierung der Wappen angebracht (Wild/Böhmer, 28).

Um mehr zu erfahren, treffe ich Historiker und Ausstellungskurator Dr. Ralph Weingarten. Er gibt regelmässig Führungen durch die Zürcher Altstadt und bespricht dabei das Leben der Juden, die im Mittelalter dort wohnten.

Herr Weingarten erklärt mir den Bezug der Wappen zu den Menachems:

Die Menachems als Auftraggeber der Malereien

Der Wappenfries der Menachems bestand aus circa 84 Wappen. Damit stellten sie wohl ihre guten Beziehungen zu noblen höfischen Familien zur Schau (Wild/Böhmer, 24f.).

Laut Ralph Weingarten demonstrieren die Malereien die "Akkulturation" der Familie. Sie bezeugen, dass die Juden damals trotz ausgrenzender Gesetze zeigen wollten, dass sie auf persönlicher Ebene auch gute Beziehungen zu Christen pflegten. Ein Ausdruck des Zugehörigkeitsgefühls der Menachems, sagt Weingarten.

Diese Beziehungen scheinen hochrangig gewesen zu sein. So frage ich mich: Welchem Beruf ging die illustre Familie Menachem nach? Woher kamen ihr Reichtum und Ansehen? Und was machte Frau Minne zu einer so bemerkenswerten, starken Frau und dem Oberhaupt ihrer Familie?

Die Menachems waren wie alle Juden zu jener Zeit Geldverleiher (Böhmer 2002, 330).

Eine mittelalterliche Urkunde belegt eine Geldverleihe der Menachems und eines weiteren Juden an den Graf von Rapperswil. Darin wird klar, dass Frau Minne sich ohne Vogt oder Fürsprech vor dem Gericht sowie vor dem Rat vorstellte. Das zeichnet sie weitgehend als „selbständige Geschäftsfrau“ (Brunschwig, 43f.).

Laut Rabbiner Dr. Elijahu Tarantul von der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) entspricht das der Rolle der jüdischen Frau zur damaligen Zeit:

Tarantul sieht die Position der Frau damals also als "mehr als gleichberechtigt" und teils als dominant.

Ein Zürcher Pfennig aus der Zeit um 1320/1330 (Schweizerisches Nationalmuseum, Inv. LM-GU2314).

Diese Währung benutzte auch Frau Minne für ihre Geschäfte!

Eine Business-Frau im Mittelalter?

Ich weiss jetzt: Frau Minne war aktiv in die Geschäfte ihrer Familie involviert.
Für jüdische Matronen waren die finanziellen Geschäfte der Familie nämlich höchst interessant (Shatzmiller 62).
Doch was genau führte hierzu?

Berufstätige Frauen im Mittelalter waren meistens Witwen. Sie sorgten nicht nur für den Lebensunterhalt der Familie, sondern wurden von der Stadt sogar als Familienoberhaupt anerkannt (Brunschwig, 83).

Ralph Weingarten über jüdische Witwen im Mittelalter

Auch Frau Minne war Witwe (Shatzmiller, 62). Ihre Tätigkeit als Geldverleiherin war unter den Jüdinnen des mittelalterlichen Zürichs verbreitet (Brunschwig, 83). Doch es gab auch noch weitere Gründe, warum der Beruf für Frauen so geeignet war...

Home Sweet Home

Der Geldverleih fand weitgehend zu Hause statt. Beim Arbeiten daheim wurde die weibliche Ehre gewahrt. Auch liess sich diese Tätigkeit ausgezeichnet mit dem Führen des eigenen Haushalts vereinbaren (Brunschwig, 83). Für die Matriarchin Frau Minne scheint mir das perfekt.

Doch wie gut war Frau Minne auf ihren Beruf als Geldhändlerin vorbereitet? Hatte sie eine gute Schulbildung als Basis?

Sehr wahrscheinlich: Ja.

Die Tätigkeit als Geldverleiherin wurde im mittelalterlichen Zürich von gebildeten Frauen ausgeübt (Brunschwig, 82). Ralph Weingarten schätzt Frau Minnes Fall ein:

Rabbiner Tarantul geht zudem davon aus, dass Frau Minne sprachgewandt war:

Doch Frau Minne war nicht nur gebildet und geschäftsorientiert.

Sie scheint viele Kontakte und Freundschaften gepflegt zu haben. Ralph Weingarten beschreibt ihr reges Sozialleben:

Ralph Weingarten erzählt, dass Frau Minne auch im religiösen Leben sehr verankert war. Dies scheint ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen zu sein. Ich möchte mehr darüber erfahren und begebe mich auf die Suche nach der damaligen Synagoge...

Schnell die Treppe runter, nach rechts wenden und nochmals rechts in die Froschau-Gasse einbiegen. So schnell war Frau Minne in der Synagoge.

Diese befand sich an der Froschaugasse 4. Beim Spaziergang durch die Altstadt habe ich das Gebäude ausfindig gemacht.

Doch welche Bedeutung kam der Synagoge zu? Und was bedeutete es, jüdisch zu sein?

Rabbiner Tarantul erklärt: "Jude sein hiess praktizierender, gläubiger Jude sein, der drei Mal am Werktag und vier Mal am Feiertag in der Synagoge betet". Weiter erläutert er:

Rabbiner Tarantul über das Jüdischsein im 14. Jahrhundert

Laut Tarantul stand die rabbinische Gelehrsamkeit absolut im Zentrum. Er setzt dies in Bezug zur Rolle der Frauen in der jüdischen Gemeinschaft:

Mit ihrer aktiven Rolle wird auch Frau Minne Mitgliedern ihrer Familie die geistige Betätigung ermöglicht haben. Zum Beispiel ihrem Sohn Moses, dem Rabbi der Gemeinde.

Rabbiner Tarantul merkt zu Frau Minnes aktiver Rolle an:

Frau Minne als vielbeschäftigte Frau

Doch legte Frau Minne auch Verschnaufpausen ein?

Lagen Verschnaufpausen drin?

Geschäftig, betucht, gebildet, mit hochrangigen Verbindungen:
War Frau Minne so etwas wie eine Königin von Zürich?

Ralph Weingarten beschreibt die spezielle Rolle, welche Frau Minne in Zürich eingenommen hat:

Zur Bedeutung Frau Minnes in Zürich

Doch trotz ihres guten Namens und wirtschaftlichen Einflusses sollte man Frau Minnes benachteiligte Stellung als Jüdin zur damaligen Zeit nicht vergessen:

"Man hat die Juden damals gebraucht, sie waren Teil der Gesellschaft, aber gleichzeitig hat man sie mit verschiedenen Abgrenzungsvorschriften an den Rand dieser Gesellschaft gesetzt", sagt Ralph Weingarten.

"1349 do brand man die Juden Zürichs an sant Mathis abend (23. Februar); won man sprach, si hettind gift in die brunnen getan."
(zitiert in Brunschwig, 45)

So erschreckend nüchtern wurde die Ermordung und Vertreibung der Zürcher Juden während des Pogroms im Februar 1349 in der Chronik der Stadt Zürich geschildert.

Laut Ralph Weingarten ist unbekannt, ob Frau Minne beim Pogrom ermordet wurde. Da ihr Mann bereits 25 Jahre vorher gestorben war, ist es möglich, dass sie bereits vor 1349 aufgrund ihres Alters verstarb.

Sollte sie aber beim Pogrom noch am Leben gewesen sein, schätzt Ralph Weingarten die Situation wie folgt ein:

Frau Minnes Tod im Pogrom von 1349 scheint möglich

Fazit: Spätestens beim Pogrom von 1349 nahm Frau Minnes Leben ein Ende.

Zürich, 21. Jahrhundert

Die Geschichte der Frau Minne beschreibt nur eines der vielen Schicksale der Zürcher Juden im 14. Jahrhundert. Wer weiss, was ich in Zukunft noch hinter den Mauern der alten Bauten der Zürcher Altstadt entdecken werde...

Quellen und Dank

Die Recherchen zu dieser Story stützen sich auf die nachstehend genannten Quellen.

Bibliographie:

Roland Böhmer: Neidhart im Bodenseegebiet. Zur Ikonographie der Neidhartdarstellungen in der Ostschweizer Wandmalerei des 14. Jahrhunderts. In: Blaschitz, Gertrud (Hg.): Neidhartrezeption in Wort und Bild, Krems 2000 (Medium Aevum Quotidianum Sonderband X), S. 30-52.

Roland Böhmer: Bogenschütze, Bauerntanz und Falkenjagd. In: Lutz, Eckart Conrad, Johanna Thali and René Wetzel (Hg.): Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Freiburger Colloquium 1998, Tübingen 2002, S. 329-364.

Annette Brunschwig: Vom 13. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution. In: Ulrich Bär und Monique R. Siegel (Hg.): Geschichte der Juden im Kanton Zürich: von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Zürich 2005, S. 29-150.

ETH Zürich, e-pics: Baugeschichtliches Archiv: collection online. ETH Library 2018. URL: http://baz.e-pics.ethz.ch/index.jspx?com.canto.cumulus.web.ErrorID=SessionIsExpired#1524600503060_25. Datum des Zugriffs: 24.4.2018.

Schweizerisches Nationalmuseum, Inv. LM-GU2314.

Joseph Shatzmiller: Cultural exchange: Jews, Christians, and art in the medieval marketplace. Princeton 2013.

Dölf Wild und Roland Böhmer: Die spätmittelalterlichen Wandmalereien im Haus <Zum Brunnenhof> in Zürich und ihre jüdischen Auftraggeber. Zürcher Denkmalpflege, Stadt Zürich, Bericht 1995/96, S. 15-33. In: Zürcher Denkmalpflege, Stadt Zürich, Bericht 1995/96 (1997), S. 15-33.

Danksagung:

Mein ganz besonderer Dank geht an Rabbiner Elijahu Tarantul, Ralph Weingarten sowie an Silvana Lattmann. Ausserdem möchte ich Herrn Rabbiner Hertig und Nicola Behrens herzlich für ihre Unterstützung danken.

Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.