#nativetok
Indigene Selbstdarstellung

Als Hans Staden im Jahr 1547 erstmals von Abenteuerlust getrieben nach Südamerika reiste, ahnte er wohl kaum, was ihm im Laufe der nächsten Monate widerfahren würde. Gerade erst zum Kommandanten einer kleinen portugiesischen Festung an der Küste Brasiliens ernannt, wurde Staden von den Tupinamba-Indianern entführt und um ein Haar verspeist – so erzählt es zumindest seine Warhaftige Historia. Die Historia, ein faszinierendes Buch und das erste ethnographische Werk über Brasilien und seine damaligen Bewohner. Die Historia ermöglichte europäischen Lesern einen Zugang zu einem ihnen unbekannten Volk und dessen Lebensweise.
Mit Indianern konnte man im Buchmarkt des 16. Jahrhunderts einen Bestseller landen – und die Faszination für die Thematik hat seither kaum nachgelassen. Man denke etwa an den Erfolg von Karl Mays Büchern und den Boom der Western-Filme im 20. Jahrhundert. In vielen dieser Geschichten, die in der populären Kultur fest verankert sind, stehen die Indianer sinnbildlich für Freiheit und oftmals auch wilde Brutalität. Der Held der Filme und Bücher ist oft ein weisser Mann; der Indianer darf allenfalls die Nebenrolle spielen. Überlegen Sie kurz – fällt Ihnen auch nur ein einigermassen populärer Film ein, in dem Indianer die Hauptrollen spielen und bei dem auch ein Native American Regie führte?
Neue Entwicklungen im Bereich der sozialen Medien erlauben es jeder Person mit einem Smartphone, selbst Regie in Kurzfilmen zu führen. Minderheitsgruppen können ihre eigene Geschichte schreiben und im Internet verbreiten. In dieser Story gehe ich der Frage auf den Grund, inwiefern soziale Medien Native Americans ermöglichen, sich und die Kultur ihrer Vorfahren selbst darzustellen. Zunächst aber wende ich mich der Darstellung von Indianern in Westernfilmen zu. Betrachten Sie die Sammlung von Filmausschnitten im folgenden Abschnitt und fragen Sie sich: Wie werden Indianer hier dargestellt?





Bildquelle: https://www.kurier.de/inhalt.quiz-wir-spielen-cowboy-und-indianer.1410aeef-11c6-4f49-bb66-125d54506ccc.html
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Bildquelle: picclick.de
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Bildquelle: https://www.gala.de/lifestyle/film-tv-musik/kino-tipp--allein-mit-dem--lone-ranger--20137802.html
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Die Faszination für Indianer währt in Europa schon lange. Mindestens seit Stadens Historia ist die Indianerfantasie zugänglich für alle, die des Lesens mächtig sind. Sogenannte «Own Voices»-Darstellungen, also literarische oder filmische Indianer-Figuren, die auch tatsächlich von Native Americans geschrieben wurden, sind allerdings deutlich in der Unterzahl. Ausnahmen stammen etwa aus der Feder des indigenen Autors und Filmemachers Sherman Alexie oder der Autorin Louise Erdrich, die dem Stamm der Anishinaabe-Indianer angehört.
Soziale Medien bieten völlig neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung und helfen marginalisierten Gruppen, sich Gehör zu verschaffen, ohne dass sie erst einen Bestseller schreiben oder sich eine Stelle in Hollywood verschaffen müssen. Alles, was es für einen Minifilm auf dem chinesischen Videoportal Tiktok braucht, sind Smartphone und Internetzugang. Das ungefilterte Preisgeben persönlicher Details und Begebenheiten ist zugegebenermassen nicht nur ein Segen – doch für die Native Americans ist Tiktok eine Chance, die eigene Kultur zu zelebrieren, mit der Welt zu teilen und den eigenen Anliegen – von der Regierung oft überhört – Gehör zu verschaffen.
Bildquelle: https://matadornetwork.com/read/indigenous-tiktok-stars/



Tiktok hat einen geradezu unheimlich präzisen Algorithmus. Die App ermittelt, was seine Zuschauer*innen interessiert und stellt die Startseite dementsprechend mit Videovorschlägen zusammen. Je öfter die Nutzer*innen die App benutzen, desto spezifischer werden die Vorschläge der Startseite. Die Videos sind kurz – meist nicht länger als 15 bis 20 Sekunden, und alles, was man als Zuschauerin zu tun braucht, ist, nach dem Ende eines Videos (oder auch gerne mittendrin!) nach oben zu swipen, um zum nächsten Video zu gelangen, und dann zum nächsten, und zum nächsten, endlos auf einem annähernd perfekt kurierten Videofeed.
Videos gibt es zu jedem Thema. Japanische Kochvideos, Fanvideos zu unbekannten Bücherserien, Gamingvideos, Hauspflanzenvideos, verstörende Tanzvideos, Fussfetischvideos, politische Videos, Kunstvideos, Autovideos – die Liste ist schier endlos. Zwischen all diesen Videos findet man ab und zu ein Video, welches mit dem Hashtag #nativetok versehen ist. Klickt man auf diesen Hashtag, findet man ein Sammelsurium an Videos, 18.4 Millionen mal wurden sie aufgerufen. Swipe um Swipe taucht man in die Welt der Indianer ein. Angehörige verschiedener indianischer Stämme produzieren und teilen zugängliche Videos auf der Internetplattform, in welchen sie sich gängigen Vorurteilen stellen und sie ansprechen. Rauchen Indianer Friedenspfeifen? Sind heutzutage wirklich alle Indianer Nordamerikas Alkoholiker? Hat jeder Indianer ein Spirit Animal? Tragen alle Amerikaner Kopfschmuck mit Federn? Die Produzent*innen der Videos sind gleichzeitig meist auch die Darsteller*innen und die Moderator*innen in ihren eigenen Videos. Wie es auf Tiktok üblich ist, wählt jede Person selbst, wie sie sich darstellen möchte. Im Fall von #nativetok wählt jede Person, was genau sie von der Kultur ihrer Vorfahren zeigen möchte.
Beliebt sind die Mode der jeweiligen Stämme, ihre Tänze und ihr Essen, aber auch unerwartete Details tauchen unter dem Hashtag auf, kehliger Gesang, der fremd klingt für unsere mitteleuropäischen Ohren, eine neu gefundene Wertschätzung für die markante Nase einiger Native Americans. Hätten Sie gewusst, dass viele Stämme ihre Kleider nicht mit buntem Faden oder Stoff verzieren, sondern mit unzähligen kleinster Glasperlen? Ich ja nicht.
#nativetok ist geprägt von der jüngeren Generation der Native Americans. Viele von ihnen leben so urban wie andere junge Amerikaner. Sie zelebrieren in ihrer Freizeit aber die Kultur und Religion ihrer Vorfahren. Auf #nativetok sind ausschliesslich Leute mit indianischem Blut zu finden. Dies ist ihr exklusiver Ort, non-Natives dürfen sehr gerne zuschauen, aber haben in den Videos des Hashtags nichts zu suchen. Zu Recht, denn lange genug gab es nirgends wirklich Platz für Indianer, und so gönnt man ihnen wenigstens diese kleine Ecke des Internets. Auch einige Nachfahren der von Staden beschriebenen Tupinamba-Indianer sind auf Tiktok zu finden, meist mit Gesang und Bildern des brasilianischen Dschungels.
Bildquelle: https://www.cbsnews.com/news/nativetiktok-is-preserving-and-showcasing-indigenous-culture/

Wofür der ganze Aufwand, mag man sich fragen? Die Tiktoks, welche man unter dem Hashtag findet, erinnern daran, dass Indianer nicht bloss ein Relikt aus uralten Zeiten sind, sondern dass sie auch in unserer Gesellschaft weiterleben und ihre Kultur zelebrieren. Vielleicht erstmals in ihrer Geschichte haben sie dank der Sozialen Medien eine Möglichkeit, ihre ganz persönliche «Brand» des Indianer-Seins mit der Welt zu teilen. Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Alltag von Non-Natives können simpel demonstriert werden, indem die Produzent*innen auf #nativetok beispielsweise Challenges folgen, welche auf Tiktok gerade populär sind. Swipen sich die Nutzer*innen durch die Videos dieser Challenges, sehen sie zwischen all den Tanz- oder Modevideos plötzlich bunten Federschmuck oder einen Pow-Wow-Event, und schon sind sie auf #nativetok gelandet. Schaut man sich dort um, so erfährt man allerlei über das Indianer-Sein. Natürlich variiert manches von Stamm zu Stamm. #nativetok bietet die Chance, Vorurteile und Stereotypen, die man vielleicht aus Western und Abenteuerromanen hat, zu überdenken.
Selbstverständlich müssen, wie auf allen Sozialen Medien, auch die hier gesammelten Videos kritisch betrachtet werden. Schliesslich kann jede und jeder ein Video posten und es beliebig gestalten. Nicht alles, was einem eine vertrauenswürdig wirkende Person auf Tiktok erzählt, ist wahr. Trotzdem gibt einem #nativetok ein Gefühl dafür, was den jungen Native Americans wichtig ist, politisch und kulturell.
Bildquelle: https://cronkitenews.azpbs.org/2021/04/01/reztok-indigenous-storytellers-find-stronger-voice-on-popular-platform/

Danksagung
Ich möchte mich ganz herzlich bei folgenden Personen bedanken, deren Arbeit wesentlich zu dieser Story beigetragen hat:
- Philipp D. Schumann, meinem Tandem-Partner
- Prof. Dr. Hildegard Keller, Dozentin der Veranstaltung "Multimedia-Storytelling" am Deutschen Seminar der Universität Zürich
- Joel Silver, Director of the Lilly Library, Bloomington (USA)
- den Tiktok-Creators, die mich mit ihren Videos zu dieser Story inspiriert haben
Bibliographie
Primärquelle
- Staden, Hans: Warhaftige Historia: Zwei Reisen nach Brasilien (1548‐1555) = Historia de duas viagens ao Brasil. Kritische Ausgabe Franz Obermeier; Übertragung ins heutige Deutsch, Joachim Tiemann. Sao Paulo / Kiel 2007.
Weiterführende Artikel
- Barocio, Mikaela: "Tiktok's #NativeFamily Is A Perfect Way To Celebrate Native American Heritage Month. Siehe: https://wearemitu.com/wearemitu/culture/tiktok-nativefamily-indigenous-cultures/, in: mitu, 10. November 2020.
- Cohen, Li: "We're not just relics of the past": How #NativeTiktok is preserving Indigenous cultures and inspiring a younger culture. Siehe: https://www.cbsnews.com/news/nativetiktok-is-preserving-and-showcasing-indigenous-culture/ , in: CBS News, 28. Januar 2021.
Bildquellen
- Titelbild + Hintergrundbild 1: https://wearemitu.com/wearemitu/culture/tiktok-nativefamily-indigenous-cultures/
- Westernfilmbild 1: https://www.kurier.de/inhalt.quiz-wir-spielen-cowboy-und-indianer.1410aeef-11c6-4f49-bb66-125d54506ccc.html
- Westernfilmbild 2: picclick.de
- Westernfilmbild 3: https://www.gala.de/lifestyle/film-tv-musik/kino-tipp--allein-mit-dem--lone-ranger--20137802.html
- Hintergrundbild 2: https://matadornetwork.com/read/indigenous-tiktok-stars/
- Tiktok-Collage: https://www.youtube.com/watch?v=CIsPGwjX7ng
- Hintergrundbild 3: https://www.cbsnews.com/news/nativetiktok-is-preserving-and-showcasing-indigenous-culture/
- Hintergrundbild 4: https://cronkitenews.azpbs.org/2021/04/01/reztok-indigenous-storytellers-find-stronger-voice-on-popular-platform/